Unerfüllter Wunsch nach Nähe – der Kampf einer jungen schwer kranken Frau gegen gesellschaftliche Tabus und bürokratische Hürden

Nina* ist 36 und lebt im Ham­bur­ger Stadt­teil Wands­bek. Im Ein­gangs­be­reich der bar­rie­re­frei­en 2‑Zim­mer-Woh­nung schmückt eine Gir­lan­de aus bun­ten Blu­men einen gro­ßen Spie­gel, vor dem ein han­dels­üb­li­ches Regal als Abstell­mög­lich­keit für Schmink­uten­si­li­en und sport­li­che Snea­k­er dient. Auf den ers­ten Blick wirkt alles ganz nor­mal – wie in der Woh­nung einer jun­gen allein­ste­hen­den Frau.

Nur ein Zim­mer wei­ter wird klar, dass die­ser Ein­druck trügt: Nina liegt in einem Pfle­ge­bett. Am Bett sind ver­schie­de­ne medi­zi­ni­sche Gerä­te befes­tigt, dar­un­ter eine Ernäh­rungs­pum­pe, weil ihr seit eini­ger Zeit das Schlu­cken kaum noch mög­lich ist – Nina hat Mul­ti­ple Skle­ro­se, eine neu­ro­de­ge­nera­ti­ve Erkran­kung des zen­tra­len Ner­ven­sys­tems, unter der nach Anga­ben der Deut­schen Mul­ti­ple Skle­ro­se Gesell­schaft ca. 280.000 Men­schen in Deutsch­land lei­den. Bei Nina ist die­se Erkran­kung, die vor 10 Jah­ren erst­mals dia­gnos­ti­ziert wur­de, unge­wöhn­lich weit fort­ge­schrit­ten, so dass ein Ver­bleib im häus­li­chen Umfeld nur noch durch umfang­rei­che Hil­fen mög­lich ist: Ein Pfle­ge­dienst küm­mert sich rund um die Uhr um die jun­ge Frau. Durch eine recht­li­che Betreu­ung kann die Finan­zie­rung der pfle­ge­ri­schen Leis­tun­gen sicher­ge­stellt wer­den.

Ein Bedürf­nis, über das nur sel­ten gespro­chen wird

Bis zur Dia­gno­se vor 10 Jah­ren führ­te Nina ein ziem­lich nor­ma­les Leben: Sie war sport­lich aktiv, hat­te einen gro­ßen Freun­des­kreis und war als Stu­den­tin in ein Lehr­amts­stu­di­um ein­ge­schrie­ben. Mit der schwe­ren Erkran­kung kamen nicht nur mas­si­ve kör­per­li­che Ein­schrän­kun­gen, son­dern auch die Ein­sam­keit. Von dem frü­he­ren Leben ist 10 Jah­re spä­ter kaum noch etwas spür­bar. Nina spricht heu­te vor allem offen dar­über, dass sie trotz ihrer schwe­ren Erkran­kung auch noch sexu­el­le Bedürf­nis­se hat – den Wunsch nach Berüh­rung, Zärt­lich­keit, einem erfüll­ten Lie­bes­le­ben. Doch die Erkran­kung schränkt Nina kör­per­lich so weit ein, dass ihr Zugang zur Sexua­li­tät abhän­gig von exter­ner Hil­fe ist – einer soge­nann­ten Sexu­al­as­sis­tenz.

Von Sexu­al­as­sis­ten­tin­nen und Sexu­al­as­sis­ten­ten, also Per­so­nen, die Men­schen, die durch eine Erkran­kung oder Behin­de­rung stark kör­per­lich beein­träch­tigt sind, in den intims­ten Momen­ten hel­fend zur Sei­te ste­hen, gibt es bun­des­weit aber nur weni­ge. Sexu­al­as­sis­tenz fällt hier zu Lan­de als sexu­el­le Dienst­leis­tung näm­lich unter das Pro­sti­tu­ti­ons­ge­setz. Trotz­dem gelingt es, für Nina eine geeig­ne­te Sexu­al­as­sis­ten­tin zu fin­den, die sich monat­lich mit ihr trifft. Im Monat ent­ste­hen dadurch meh­re­re hun­dert Euro an Kos­ten. Geld, das Nina nicht hat. Die Erspar­nis­se nei­gen sich schnell dem Ende zu.

Nähe als Luxus­gut

Wäh­rend auf klas­si­sche Leis­tun­gen der Pfle­ge und Ein­glie­de­rungs­hil­fe nach den Vor­schrif­ten des Sozi­al­ge­setz­bu­ches ein Rechts­an­spruch besteht, bewegt sich Sexu­al­as­sis­tenz noch immer in einem recht­li­chen Grau­be­reich zwi­schen ech­ter Inklu­si­on und dem Recht auf Aus­übung einer selbst­be­stimm­ten Sexua­li­tät sowie sexu­el­len Hand­lun­gen als Dienst­leis­tung.

Die Stadt Ham­burg ver­tritt hier­zu die Auf­fas­sung, dass es sich nicht um Leis­tun­gen der Ein­glie­de­rungs­hil­fe han­de­le, da es nicht Ziel sei, die gleich­be­rech­tig­te Teil­ha­be am Leben in der Gemein­schaft zu ermög­li­chen. Auch ein Anspruch nach den Vor­schrif­ten des SGB XII (Sozi­al­hil­fe) sei nicht gege­ben. Die Auf­ga­be der Sozi­al­hil­fe beschrän­ke sich dar­auf, dem Leis­tungs­emp­fän­ger ein Leben zu ermög­li­chen, das der Wür­de des Men­schen ent­spre­che. Dies umfas­se zwar über die not­wen­di­gen Mit­tel für ein Exis­tenz­mi­ni­mum hin­aus die Mit­tel, die der Art und dem Umfang nach ein den „herr­schen­den Lebens­ge­wohn­hei­ten“ ori­en­tier­tes Leben ermög­li­che, eine Stei­ge­rung der Lebens­qua­li­tät, zu der eine Sexu­al­as­sis­tenz zuzu­ord­nen sei, gehö­re jedoch nicht zu den Auf­ga­ben der Sozi­al­hil­fe. Viel­mehr sei die Bewil­li­gung der Kos­ten für eine Sexu­al­as­sis­tenz eine Bes­ser­stel­lung und kei­ne Gleich­stel­lung gegen­über Men­schen, die eine sol­che Leis­tung nicht erhal­ten wür­den. Ein Leben in Wür­de sei auch ohne eine Sexu­al­as­sis­tenz mög­lich.

Sexu­al­as­sis­tenz als Bes­ser­stel­lung?

Das Recht auf sexu­el­le Selbst­be­stim­mung ist ein Grund­recht, von dem auch behin­der­te Men­schen nicht aus­ge­schlos­sen wer­den dür­fen. Sind die kör­per­li­chen Beein­träch­ti­gun­gen erheb­lich, ist die Sexu­al­as­sis­tenz häu­fig der ein­zi­ge Schlüs­sel zur Aus­übung der Sexua­li­tät – ins­be­son­de­re dann, wenn neu­ro­lo­gi­sche Stö­run­gen, unkon­trol­lier­ba­re Mus­kel­kon­trak­tio­nen, Koor­di­na­ti­ons­pro­ble­me und eine Schwä­chung der Mus­ku­la­tur Sexua­li­tät ohne Hil­fe nahe­zu uner­reich­bar erschei­nen las­sen. Sexua­li­tät und Inti­mi­tät sind mensch­li­che Grund­be­dürf­nis­se und kein Luxus. Dem Sozi­al­hil­fe­trä­ger kann des­halb auch nicht das Recht zuste­hen, für Men­schen dar­über zu ent­schei­den, ob ein Leben in Wür­de auch ohne Sexua­li­tät mög­lich ist. Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on dür­fen nicht da auf­hö­ren, wo es um den Zugang zu einem sol­chen mensch­li­chen Grund­be­dürf­nis geht. In die­sem Zusam­men­hang kann dann jeden­falls auch von einer Bes­ser­stel­lung kei­ne Rede sein, da Men­schen ohne eine kör­per­li­che Beein­träch­ti­gung aus­rei­chend Mög­lich­kei­ten haben dürf­ten, Sexua­li­tät – auch ohne einen Part­ner – zu erle­ben.

Ein Pfle­ger nutzt die Not­la­ge aus

Beim zustän­di­gen Sozi­al­hil­fe­trä­ger in Ham­burg ist nun­mehr ein für Nina gestell­ter Antrag auf Über­nah­me der Kos­ten für eine Sexu­al­as­sis­tenz abge­lehnt wor­den. Für sie heißt es, den Aus­gang des Rechts­mit­tel­ver­fah­rens abzu­war­ten.

Zwi­schen­zeit­lich ver­traut sich Nina einer Pfle­ge­kraft an: Ein Pfle­ger aus ihrem Team habe mit ihr Sex gehabt, angeb­lich um ihr in ihrer Not­si­tua­ti­on zu hel­fen. Der Pfle­ger soll den sexu­el­len Kon­takt gegen­über der Pfle­ge­dienst­lei­te­rin des Pfle­ge­diens­tes ein­ge­räumt haben und wird frist­los gekün­digt. Es folgt eine Straf­an­zei­ge wegen des sexu­el­len Miss­brauchs unter Aus­nut­zung eines Beratungs‑, Behand­lungs- oder Betreu­ungs­ver­hält­nis­ses, straf­bar nach § 174c des Straf­ge­setz­bu­ches. Es kommt dar­auf­hin zu einer Video­ver­neh­mung von Nina durch das zustän­di­ge Lan­des­kri­mi­nal­amt, doch Nina ist krank­heits­be­dingt kaum noch in der Lage, geord­ne­te ver­wert­ba­re Anga­ben zur Sache zu machen. Die Staats­an­walt­schaft Ham­burg stellt das Ver­fah­ren gegen den Pfle­ger, der die Tat inzwi­schen bestrei­tet, ein. Auch eine Beschwer­de gegen die Ein­stel­lung des Ver­fah­rens bleibt ohne Erfolg.

Kei­ne Fra­ge, Pfle­ge­kräf­te genie­ßen ähn­lich wie Ärz­te und ande­re medi­zi­ni­sche Fach­kräf­te eine beson­de­re Ver­trau­ens­stel­lung. Sexu­el­le Hand­lun­gen sind in kei­ner Wei­se mit pfle­ge­ri­schen Ver­rich­tun­gen in Ein­klang zu brin­gen. Wer sich einer pro­fes­sio­nell han­deln­den Pfle­ge­kraft anver­traut, muss sich sicher sein kön­nen, dass sexu­el­le Inter­es­sen kei­ne Rol­le spie­len. Es bleibt aber die Fra­ge, ob die Hal­tung der Sozi­al­leis­tungs­trä­ger nicht zumin­dest dazu bei­getra­gen hat, dass ein Pfle­ger die Not­si­tua­ti­on der jun­gen Frau aus­nut­zen konn­te – eine Not­si­tua­ti­on, die dar­auf beruht, dass ein mensch­li­ches Grund­be­dürf­nis vor­ent­hal­ten blei­ben soll.

Auch die Recht­spre­chung ist sich bis­her unei­nig

In der Recht­spre­chung konn­te die Rechts­fra­ge, ob es sich bei der Sexu­al­as­sis­tenz um eine von Sozi­al­leis­tungs­trä­gern zu finan­zie­ren­de Leis­tung han­delt, immer noch nicht abschlie­ßend geklärt wer­den. Bis­her sind Gerich­te jeden­falls zu ganz unter­schied­li­chen Ergeb­nis­sen gekom­men. Der Baye­ri­sche Ver­wal­tungs­ge­richts­hof ent­schied bei­spiels­wei­se im Jahr 2006 zum Akten­zei­chen 12 BV 06.320, dass ein Anspruch nicht nach den Vor­schrif­ten der Ein­glie­de­rungs­hil­fe nach dem SGB IX bestehe, da die Sexu­al­as­sis­tenz der Befrie­di­gung sexu­el­ler Bedürf­nis­se die­ne und nicht der Teil­nah­me am Leben in der Gemein­schaft – es wür­den näm­lich kei­ner­lei Kon­tak­te in die Außen­welt ver­mit­telt. Das Lan­des­so­zi­al­ge­richt Thü­rin­gen ver­nein­te dar­über hin­aus im Jahr 2008 zum Akten­zei­chen L 1 SO 619/08 ER einen Anspruch gegen die gesetz­li­che Kran­ken­ver­si­che­rung.

Dem­ge­gen­über ent­schied das Sozi­al­ge­richt Han­no­ver erst im Jahr 2022 zum Akten­zei­chen S 58 U 134/18, dass die Kos­ten für eine Sexu­al­as­sis­tenz im Rah­men eines per­sön­li­chen Bud­gets zu erbrin­gen sei­en. Die Sexu­al­be­glei­tung stel­le – so das Sozi­al­ge­richt – eine Leis­tung zur Sozia­len Teil­ha­be im Sin­ne des § 76 SGB IX (Ein­glie­de­rungs­hil­fe) dar. Die Sexu­al­be­glei­tung sei auch geeig­net und erfor­der­lich, um die gesell­schaft­li­che Inte­gra­ti­on zu ermög­li­chen. Dem ste­he auch nicht ent­ge­gen, dass die Sexu­al­kon­tak­te aus­schließ­lich in einem von der Außen­welt abge­son­der­ten und geschütz­ten Intim­be­reich statt­fin­den wür­den und kei­ne Kon­tak­te nach außen ver­mit­teln. Ande­re geeig­ne­te Mit­tel zur Ermög­li­chung einer selbst­be­stimm­ten Sexua­li­tät als die Inan­spruch­nah­me von Sexu­al­be­glei­tung sei­en gegen­wär­tig nicht zu erken­nen.

Auch Nina war­tet seit 2022 auf die Ent­schei­dung über eine Kla­ge, die beim Sozi­al­ge­richt Ham­burg erho­ben wur­de. Bis zu einer Ent­schei­dung bleibt ihr die Aus­übung einer selbst­be­stimm­ten Sexua­li­tät vor­ent­hal­ten – die Sexu­al­as­sis­tenz kann nicht mehr aus eige­nen Mit­teln finan­ziert wer­den. Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on und Teil­ha­be sehen anders aus.     fs

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Bild­nach­weis: iStock­pho­to 1383859162, © istock­pho­to / Ele­na Niko­n­o­va

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