Wenn Streiten zum Prinzip wird.

Nicht nur in mil­itärischen Auseinan­der­set­zun­gen gibt es soge­nan­nte Stel­lvertreterkriege. Es gibt sie — in etwas ander­er Form — lei­der auch im Fam­i­lien­recht. Dann, wenn Eltern um das Kind stre­it­en, es eigentlich aber noch um nicht ver­ar­beit­ete Kon­flik­te, Ver­let­zun­gen und Ent­täuschun­gen auf der Paarebene geht. Das ist nicht nur destruk­tiv, son­dern es schadet vor allem dem Kind.

In einem aktuellen fam­i­lien­gerichtlichen Ver­fahren bin ich zum Ver­fahrens­bei­s­tand bestellt wor­den. Die Eltern stre­it­en seit Jahren vor dem Fam­i­lien­gericht. Es waren zahlre­iche Ver­fahren bezüglich des Sorge- und Umgangsrechts anhängig. Hin­ter­grund ist eine kurzzeit­ige Ehe, aus der ein gemein­sames Kind her­vorge­gan­gen war, das sich inzwis­chen im Grund­schu­lal­ter befind­et. Die Fron­ten kön­nten kaum ver­härteter sein. Die Mut­ter behauptet, vom Kindes­vater in der Ehe kör­per­lich mis­shan­delt wor­den zu sein. Ein strafgerichtlich­es Ver­fahren brachte kein Licht ins Dun­kle, das Ver­fahren wurde eingestellt. Es gab eine “Aus­sage gegen Aussage”-Konstellation. Unstre­it­ig ist, dass sich der Vater stets für­sor­glich um das gemein­same Kind küm­merte. Bei­de Eltern leben inzwis­chen in neuen Part­ner­schaften. Das Kind wird für die Umgänge vom neuen Part­ner der Mut­ter an den Vater übergeben, was von bei­den Eltern als sin­nvoll und kon­struk­tiv beschrieben wird. Die Über­gabe erfol­gt seit Jahren auf einem Spielplatz. Der Kindesmut­ter gehe es — so beschreibt sie es jeden­falls sel­ber — um ihre Sicher­heit.

In dem nun­mehri­gen Ver­fahren geht es um einen Antrag des Kindes­vaters nach § 1686 BGB. Danach kann jed­er Eltern­teil vom anderen Eltern­teil bei berechtigtem Inter­esse Auskun­ft über die per­sön­lichen Ver­hält­nisse des Kindes ver­lan­gen, soweit dies dem Wohl des Kindes nicht wider­spricht. Konkret geht es um die Wohnan­schrift des Kindes bei der Kindesmut­ter, die dem Kindes­vater nicht bekan­nt sei und weshalb die Über­gabe seit Jahren auf dem Spielplatz stat­tfinde. Das Ziel des Auskun­fts­begehrens zum jet­zi­gen Zeit­punkt unklar.

Ich besuche das Kind im häus­lichen Umfeld der Kindesmut­ter. Im Gespräch mit mir bricht die Kindesmut­ter in Trä­nen aus, erzählt über die für sie trau­ma­tis­chen Erleb­nisse mit dem Kindes­vater. Sie befinde sich deshalb in Ther­a­pie. Die Auskun­ftssperre im Meldereg­is­ter bedeute für sie einen gewis­sen Schutz ihres Lebens­mit­telpunk­tes. Mit ein­er Desta­bil­isierung ihrer psy­chis­chen Ver­fas­sung sei zu rech­nen, wenn der Kindes­vater vor dem Abschluss der ther­a­peutis­chen Aufar­beitung über die Anschrift ver­füge.

Ich empfehle dem Gericht, den Antrag abzulehnen. Aus mein­er Sicht kann dahin­ste­hen, ob es tat­säch­lich zu den von der Kindesmut­ter behaupteten Ereignis­sen gekom­men ist. Allein der Umstand, dass die Kindesmut­ter die Mit­teilung ihrer Wohnan­schrift sub­jek­tiv als Bedro­hung erlebt und darunter desta­bil­isieren kön­nte, was auch ihr Ther­a­peut in ein­er für das Gericht bes­timmten Stel­lung­nahme bestätigt, führt dazu, dass die Verpflich­tung zur Mit­teilung der Wohnan­schrift gegenüber dem Kindes­vater mit dem Wohl des Kindes, das seinen Lebens­mit­telpunkt bei der Kindesmut­ter hat, nicht in Ein­klang zu brin­gen ist. Hinzu kommt, dass der Kindes­vater die Umgänge seit Jahren zuver­läs­sig wahrnehmen kann — auch ohne die Wohnan­schrift zu ken­nen. Das Fam­i­lien­gericht teilt meine Auf­fas­sung.

Zum Ende der Anhörung die über­raschende Wende: Die Ver­fahrens­bevollmächtigte des Kindes­vaters erk­lärt, dass ihr die Anschrift der Kindesmut­ter längst bekan­nt sei. Ihr Man­dant wolle die Anschrift aber von der Kindesmut­ter hören. Es gehe ihm um das Prinzip. Alle Anwe­senden ver­drehen die Augen.

Paar­beziehun­gen und Ehen kön­nen scheit­ern. Tragis­cher­weise häu­fig ger­ade dann, wenn ein Kind mit im Spiel ist und man sich — auch unter Berück­sich­ti­gung ein­er neuen All­t­ags- und Lebenssi­t­u­a­tion — noch ein­mal von ein­er ganz anderen Seite ken­nen­lernt. Zum Glück leben wir in ein­er Zeit, in der das — zumin­d­est in unser­er Kul­tur — gesellschaftliche Akzep­tanz find­et. Das Leben ist zu kurz, um in ein­er dauer­haft unglück­lichen Beziehung zu bleiben. Selb­st dann, wenn Haus und Hof sowie ehe­liche Lebens­ge­mein­schaft auf dem Spiel ste­hen. Patch­workkon­stel­la­tio­nen sind inzwis­chen genau so nor­mal wie klas­sis­che Fam­i­lien- und Leben­skon­struk­te. Sie kön­nen sog­ar für alle Beteiligten eine Chance sein.

Auch Kinder kön­nen unter diesen Bedin­gun­gen schaden­frei aufwach­sen. Voraus­set­zung dafür ist vor allem eine ganze Menge Diszi­plin der Kinde­sel­tern und die Bere­itschaft, das Wohl des Kindes über die eige­nen Inter­essen und Befind­lichkeit­en zu stellen. Häu­fig eine Mam­mu­tauf­gabe, für deren Bewäl­ti­gung es manch­mal auch pro­fes­sioneller Hil­fe und Unter­stützung bedarf. Für das Ziel, dem gemein­samen Kind ein unbe­lastetes und kindgerecht­es Leben außer­halb der elter­lichen Stre­itkul­tur zu ermöglichen, sollte man den Aufwand jedoch nicht scheuen.

Fam­i­lien­gerichte kön­nen den Weg nur ebnen. Gehen müssen ihn die Kinde­sel­tern selb­st. Eine wichtige Rolle übernehmen dabei auch Recht­san­wälte. Gute und erfahrene Recht­san­wälte im Fam­i­lien­recht stre­it­en nicht aus Prinzip. Sie ver­suchen in kind­schaft­srechtlichen Ver­fahren am Kindeswohl ori­en­tierte Lösun­gen zu find­en. Im Ide­al­fall haben sie auch ihre Man­dan­ten ein wenig im Griff.     fs

Bis dass der Tod euch scheidet. Oder das Betreuungsgericht.

Das dachte sich zumin­d­est eine gewiefte Frau (Mitte 50) aus Ham­burg. Aber fan­gen wir von vorne an.

Ich wurde vom Betreu­ungs­gericht für einen älteren Her­rn (Ende 70) zum Berufs­be­treuer bestellt. Angeregt hat­te die Betreu­ung seine Ehe­frau, die auch gle­ich ein ärztlich­es Attest vorgelegt hat­te. Die sich daraus ergebende Diag­nose: Kor­sakow-Syn­drom. Die Fähigkeit zur freien Wil­lens­bil­dung sei beein­trächtigt. Das Ziel: Eine geschützt-geschlossene Ein­rich­tung, möglichst auf demen­ziell verän­derte Men­schen ein­gerichtet, so lange wie möglich.

Der Betrof­fene war damit nicht ein­ver­standen. Und er ver­suchte in einem Kranken­haus — in dem er inzwis­chen behan­delt wurde — alles, um auch Dritte davon zu überzeu­gen, dass er dur­chaus noch Herr sein­er Sinne sei. Das reichte zumin­d­est dafür, die zuständi­ge Betreu­ungsrich­terin, die sich zunächst entsch­ieden hat­te, die Ehe­frau des Betrof­fe­nen zu ehre­namtlichen Betreuerin zu bestellen, zweifeln zu lassen. Sie bestellte mich daher neben der Ehe­frau zum Berufs­be­treuer.

Ich besuchte den Betrof­fe­nen daraufhin im
Kranken­haus. Das Gespräch war völ­lig geord­net möglich. Die Geschichte, die mir der Betrof­fene erzählte, dur­chaus — zumin­d­est in gewiss­er Weise — film­reif. Die Ehe­frau, immer­hin 25 Jahre jünger, hat­te seit einiger Zeit eine Lieb­schaft. Der Betrof­fene war in die Jahre gekom­men und pflegebedürftig. Er hat­te — so schilderte er es zumin­d­est — aus Frust das eine oder andere Mal etwas über den Durst getrunk­en. Eine Schei­dung schien zu kom­pliziert und auch zu teuer. Die Idee, den Betrof­fe­nen langfristig unterzubrin­gen, war geboren. Hätte auch eigentlich ganz gut funk­tion­iert, wäre ich nicht als Berufs­be­treuer dazwis­chen gekom­men.

Inzwis­chen hat das Betreu­ungs­gericht die Ehe­frau wegen Inter­essenkon­flik­ten aus der Betreu­ung ent­lassen. Für den Betrof­fe­nen kon­nte eine betreute und selb­stver­ständlich offene Wohn­form gefun­den wer­den, denn zurück­kehren zu Ehe­frau in das häus­liche Umfeld wollte er dann auch nicht mehr.

Eine Geschichte, wie sie nur das Leben schreibt. Was wir daraus ler­nen kön­nen? Augen auf bei der Part­ner­wahl. Dein Part­ner kön­nte irgend­wann auch dein rechtlich­er Betreuer sein. Oder neuerd­ings in den Genuss des Ehe­gat­ten­notvertre­tungsrechts kom­men.

Mit dem Fall wird sich jet­zt nicht nur das Betreu­ungs­gericht befassen, son­dern auch das Fam­i­lien­gericht. Der Betrof­fene möchte sich schei­den lassen.     fs

Warum Rechtsstaatlichkeit auch da nicht aufhören sollte, wo Strafgerichte über die Zukunft psychisch kranker Menschen entscheiden

Fre­itag, 4. Juli 2025. 12.00 Uhr. Für meinen Betreuten geht es — wie jedes Jahr — um alles. Eine Strafvoll­streck­ungskam­mer beim Landgericht hat über die Frage der Fort­dauer der Unter­bringung nach § 63 StGB zu entschei­den und es sieht schlecht aus: Der Zus­tand des Betreuten hat sich im zurück­liegen­den Jahr eher ver­schlechtert. Die Erkrankung, eine para­noide Schiz­o­phre­nie, ist schw­er chronifiziert. Es beste­ht weitest­ge­hend eine Behand­lungsre­sistenz, die zu ein­er Hil­flosigkeit des gesamten Behand­lung­steams führt. Regelmäßig wer­den auch fremdge­fährdende Fehlhand­lun­gen doku­men­tiert. Die ver­meintliche Lösung: Eine Unter­bringung seit mehreren Jahren unter Bedin­gun­gen, die mit ein­er Iso­la­tion­shaft ver­gle­ich­bar sind. Zeitweise wer­den bis zu acht Psy­chophar­ma­ka gle­ichzeit­ig verabre­icht. Ver­schiedene Sachver­ständi­ge bean­standen die nicht leitlin­ien­gerechte psy­chophar­makol­o­gis­che Behand­lung, die inzwis­chen ver­mut­lich mitver­ant­wortlich ist für eine aus­geprägte und glob­al­isierte Hirn­vol­u­men­min­derung. Der Betreute präsen­tiert dadurch mas­sive hirnor­gan­is­che Beein­träch­ti­gun­gen.

Für mich als Berufs­be­treuer und die Eltern als ehre­namtliche Betreuer ist klar, dass wir eine Ent­las­sung aus dem Maßregelvol­lzug unter diesen Bedin­gun­gen nicht erre­ichen kön­nen. Im Vorder­grund ste­ht für uns das Ziel, die Unter­bringungs­be­din­gun­gen zu verbessern und eine Ein­schränkung der Psy­chophar­makather­a­pie zu erre­ichen. Im Novem­ber 2024 gebe ich dem Nord­deutschen Rund­funk, der über den Fall berichtet, ein Inter­view und erk­läre, dass eine Zwangs­be­hand­lung, die man­gels Erfol­gsaus­sicht nach dem Maßregelvol­lzugs­ge­setz nicht zuläs­sig ist, den Straftatbe­stand der gefährlichen Kör­per­ver­let­zung erfüllen kön­nte.

Die Strafvoll­streck­ungskam­mer hat mich nun­mehr zur Anhörung des Betreuten geladen. Der Betreute sitzt zwis­chen zwei kräfti­gen Pflegern der Klinik in Hand­schellen vor dem Gericht. Rechts neben ihm zwei Ärzte der Klinik und ihre Syn­diku­san­wältin. Die Kam­mer verkün­det sodann, dass sie die Syn­diku­san­wältin der Klinik auf­grund der beste­hen­den Auseinan­der­set­zun­gen und der NDR-Berichter­stat­tung zur Anhörung zuge­lassen habe. Zugle­ich habe sie entsch­ieden, die Eltern des Betreuten und mich als geset­zliche Vertreter von der Anhörung auszuschließen. Die Kam­mer wolle ins­beson­dere Auseinan­der­set­zun­gen zwis­chen den Betreuern und der Klinik keinen Raum geben. Es sei — auch wenn dafür nicht die Eltern des Betreuten ver­ant­wortlich seien — nach der Berichter­stat­tung des NDR zu zer­stoch­enen Autor­eifen und dem Verteilen von Fly­ern auf dem Klinikgelände gekom­men.

Zurück bleibt ein schw­er psy­chisch kranker Men­sch mit seinem Pflichtvertei­di­ger. Die Klinik mit fünf Mitar­beit­ern deut­lich in der Überzahl. Der “Rauswurf” der­jeni­gen, die für die Vertre­tung der Inter­essen des psy­chisch kranken Men­schen bestellt sind, offen­bar durch eine Strafvoll­streck­ungskam­mer insze­niert, um zu sig­nal­isieren, dass die Inter­essen der behan­del­nden Ärzte bei der Kam­mer deut­lich bess­er aufge­hoben sind als die berechtigten Belange eines schw­er kranken Men­schen, um dessen Zukun­ft es geht.

Ein faires Ver­fahren sieht anders aus. Bei der Gesamtwürdi­gung der für die Frage der Unter­bringung maßge­blichen Umstände sollte schon vor dem Hin­ter­grund der Ver­hält­nis­mäßigkeit regelmäßig disku­tiert wer­den, ob die Behand­lung über­haupt geeignet ist, auch das Ziel der Besserung der Anlasserkrankung zu erre­ichen. Eine Strafvoll­streck­ungskam­mer, die Betreuer dafür abstraft, dass sie sich in diesem Zusam­men­hang für die Inter­essen ihres Betreuten ein­set­zen, tritt den Rechtsstaat mit Füßen.

Es bleibt abzuwarten, wie das Ober­lan­des­gericht den Sachver­halt beurteilt.     fs

Hirntod auf Raten: Warum wir dringend auch in der forensischen Psychiatrie über irreversible Langzeitschäden durch Psychopharmaka reden müssen

Es klingt pro­voka­tiv, ist aber Fakt: Die Todesstrafe ist seit 1949 in Deutsch­land abgeschafft. Das ergibt sich aus dem Grundge­setz, das am 23. Mai 1949 in Kraft trat, namentlich aus dem Artikel 102 GG. Und das Grundge­setz schließt — eben­so wie die Europäis­che Men­schen­recht­skon­ven­tion — Folter sowie men­sche­nun­würdi­ge Behand­lun­gen aus. Bedin­gungs­los. Auch dann, wenn Men­schen mit dem Gesetz in Kon­flikt ger­at­en sind.

Jet­zt ist in der Geschichte der Men­schheit das Prob­lem nicht neu, dass sich mitunter auch die Medi­zin unter dem Deck­man­tel der Wis­senschaft Behand­lun­gen bedi­ent, die als Folter oder men­sche­nun­würdig zu betra­cht­en sind. Wenn man an die ärztlichen Ver­brechen des Nation­al­sozial­is­mus denkt, manch­mal aus der puren Lust am Quälen. Oft­mals aber auch aus der Hil­flosigkeit her­aus, etwa wenn das medi­zinis­che Wis­sen und Ver­ständ­nis an seine Gren­zen stößt. So wie beispiel­sweise bei der Psy­chochirurgie in der Gestalt der Lobot­o­mie, wie man sie noch bis in die 1960er Jahre durchge­führt hat. Das Ziel: Psy­chis­che Erkrankun­gen durch die Zer­störung von Hirn­struk­turen zu heilen. Die Real­ität: Häu­fig schwere Per­sön­lichkeitsverän­derun­gen und Ver­lust der Intel­li­genz bis hin zu ein­er schw­eren geisti­gen Behin­derung.

Zum Glück sind Men­schen lern­fähig. Zumin­d­est hirnchirur­gis­che Ein­griffe, die auf die pure Zer­störung von Hirn­struk­turen abzie­len, gehören — zumin­d­est im europäis­chen Leben­sraum — der Ver­gan­gen­heit an. In der Psy­chi­a­trie ist das sicher­lich auch der Erfind­ung des ersten Neu­rolep­tikums, dem Chlor­pro­mazin, geschuldet, das in Deutsch­land 1953 unter dem Pro­duk­t­na­men Megaphen auf den Markt kam. Das Ver­sprechen: Schwere psy­chis­che Erkrankun­gen wie Psy­cho­sen aus dem schiz­o­phre­nen For­menkreis soll­ten sich for­t­an men­schen­würdig und ohne mas­sive Langzeitschä­den scho­nend behan­deln lassen. Aber auch das stellte sich schnell als falsch her­aus. Inzwis­chen kann durch ver­schiedene Stu­di­en belegt wer­den, dass die länger­fristige Behand­lung mit einem Neu­rolep­tikum — selb­st im Rah­men der soge­nan­nten Monother­a­pie, also der Behand­lung mit einem einzi­gen Wirk­stoff — das Gehirn schrumpfen lässt. In der Medi­zin nen­nt man das Hir­na­t­ro­phie oder Hirn­vol­u­men­min­derung. Einige Forsch­er sagen, dass unklar sei, ob diese Kom­p­lika­tion (nur) durch Medika­mente bed­ingt sei oder schon die psy­chis­che Erkrankung selb­st zum Ver­lust von Hirn­sub­stanz führe. Klar ist darüber hin­aus auch, dass die Akzep­tanz ein­er Neu­rolep­tik­abehand­lung auf­grund erhe­blich­er Neben­wirkun­gen häu­fig ger­ing ist. Nicht sel­ten kommt es in der Akutpsy­chi­a­trie zur Hos­pi­tal­isierung und zum soge­nan­nten “Drehtür-Effekt”. Die Erkrankung chronifiziert oder wird per­spek­tivisch schlim­mer.

Naturgemäß sind nun­mehr die meis­ten medi­zinis­chen und phar­makol­o­gis­chen Ther­a­pi­en nicht risiko­los. Es muss durch Fach­leute stets der medi­zinis­che Nutzen mit den zu erwartenden Risiken abge­wogen wer­den. Im Vorder­grund ste­ht hier das Selb­st­bes­tim­mungsrecht des Patien­ten. Dieser willigt nach Beratung und Aufk­lärung durch den behan­del­nden Arzt in eine medi­zinis­che Behand­lung ein, kann also für sich entschei­den, ob er das mögliche oder zu erwartende Risiko einge­ht. Grund­sät­zlich gibt es auch das soge­nan­nte Recht auf Krankheit. Es ste­ht einem Men­schen also auch frei, eine Behand­lung abzulehnen und krank zu bleiben. Das Bun­desver­fas­sungs­gericht hat sog­ar zulet­zt 2020 das nahezu bedin­gungslose Recht auf ein selb­st­bes­timmtes Ster­ben betont.

Bei psy­chis­chen Erkrankun­gen ist das schwieriger. Was ist, wenn ein Men­sch krankheits­be­d­ingt nicht in der Lage ist, seinen Willen frei zu bilden? Geschlossene Behand­lungs­set­tings oder gar ärztliche Zwangs­be­hand­lun­gen wer­den als schwere Grun­drecht­se­in­griffe seit jeher heikel disku­tiert. Im Betreu­ungsrecht und in den Psy­chisch-Kranken-Geset­zen der Län­der ist das Ver­fahren zumin­d­est klar und rechtsstaatlich geregelt. Es bedarf in der Regel — ins­beson­dere bei län­geren Maß­nah­men — einem ärztlichen Sachver­ständi­gengutacht­en. Über die Maß­nah­men, die zeitlich begren­zt sind, entschei­det am Ende ein Richter oder eine Rich­terin. Bed­ingt durch die Schwere solch­er Grun­drecht­se­in­griffe kom­men solche Maß­nah­men fern­er­hin nur zur Abwen­dung erhe­blich­er Gefahren in Betra­cht, im Betreu­ungsrecht etwa bei der Gefahr, dass sich ein Men­sch erhe­blichen gesund­heitlichen Schaden zufü­gen oder selb­st töten kön­nte.

Dann gibt es jedoch noch Men­schen, die in Folge ihrer schw­eren psy­chis­chen Erkrankung strafrechtlich im Zus­tand der Schul­dun­fähigkeit in Erschei­n­ung getreten sind und nach gerichtlich­er Fest­stel­lung eine Gefahr für die All­ge­mein­heit darstellen. Anlass für eine in der Regel unbe­fris­tete Unter­bringung im Maßregelvol­lzug kön­nen schw­er­wiegende Straftat­en sein. Ger­ade in den let­zten Jahren und Jahrzehn­ten führt aber auch ein flächen­deck­endes Fehlen geeigneter psy­chi­a­trisch­er Ver­sorgungsstruk­turen immer häu­figer dazu, dass auch Straftat­en, für die Men­schen, die schuld­fähig sind, nicht ein­mal eine Frei­heitsstrafe zu erwarten gehabt hät­ten, zur Unter­bringung im Maßregelvol­lzug führen. Das wiederum nen­nt man Foren­si­fizierung.

Keine Frage, die foren­sis­che Psy­chi­a­trie ste­ht hier vor vielfälti­gen Her­aus­forderun­gen. Sie muss Men­schen behan­deln, die nicht nur beson­ders schw­er erkrankt sind, son­dern sich meis­tens auch zuvor im Bere­ich der Akutpsy­chi­a­trie nicht aus­re­ichend sta­bil­isieren kon­nten. So wie Christoph, über den das NDR im Novem­ber 2024 berichtete (https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/meldungen/Menschenunwuerdig-Forensische-Psychiatrie-Ochsenzoll-in-der-Kritik,ochsenzoll132.html) und der seit seinem 17. Leben­s­jahr bzw. seit nun­mehr vie­len Jahren unter Bedin­gun­gen, die mit ein­er dauer­haften Iso­la­tion­shaft ver­gle­ich­bar sind, im Maßregelvol­lzug unterge­bracht ist. Ruhig gestellt mit Medika­menten. Medika­mente, die allmäh­lich sein Gehirn zer­stören. Ein Cock­tail aus ver­schiede­nen Neu­rolep­ti­ka, von denen nie­mand weiß, zu welchen Neben- und Wech­sel­wirkun­gen es kommt. Ein Cock­tail, der so in kein­er medi­zinis­chen Behand­lungsleitlin­ie emp­fohlen wird. Seit Jahren weisen die Eltern von Christoph auf diesen Umstand hin und seit einiger Zeit kämpfe auch ich als Berufs­be­treuer um die Rechte und für die Inter­essen von Christoph, der inzwis­chen das Voll­bild eines schw­er intel­li­gen­zge­minderten Men­schen präsen­tiert.

Nun fol­gte am 16. Mai 2025 eine MRT-Unter­suchung des Kopfes, die trau­rige Gewis­sheit bringt: “Alter­sun­phys­i­ol­o­gisch aus­geprägte, gen­er­al­isierte Hirn­vol­u­men­min­derung”. Die behan­del­nden Ärzte wer­den nun behaupten, dass dies nicht Folge der Medika­mente sei, son­dern der schw­eren psy­chis­chen Erkrankung. Sie wer­den sich auf § 10 des Ham­bur­gis­chen Maßregelvol­lzugs­ge­set­zes berufen, das unter bes­timmten rechtlichen Voraus­set­zun­gen eine ärztliche Zwangs­be­hand­lung ges­tat­tet. Dabei haben sie aber aus den Augen ver­loren, dass ger­ade diese Rechts­grund­lage eine ärztliche Zwangs­be­hand­lung nur dann vor­sieht, wenn sie Erfolg ver­spricht. Einen Erfolg, den es seit Jahren nicht gibt und für den man mas­sive hirnor­gan­is­che Langzeitschä­den zumin­d­est bil­li­gend in Kauf genom­men hat, den Hirn­tod auf Rat­en. Eine Art Todesstrafe, leg­timiert durch medi­zinis­che Behand­lung — obwohl von Schul­dun­fähigkeit aus­ge­gan­gen wor­den war.

Unsere Gesellschaft muss sich fra­gen, wie jet­zt und in Zukun­ft mit schw­er psy­chisch kranken Men­schen umge­gan­gen wer­den soll. Ein Schick­sal, das jeden tre­f­fen kann. Die psy­chophar­makol­o­gis­che Behand­lung mit einem Neu­rolep­tikum ist wichtig und in vie­len Fällen auch unverzicht­bar, eben­so wie der Schutz der All­ge­mein­heit. Aber eine solche Behand­lung hat auch ihre Schat­ten­seit­en, die in jedem Einzelfall eine empfind­liche Nutzen-Risiko-Abwä­gung erforder­lich machen. Die Medi­zin sollte hier aus der Ver­gan­gen­heit ler­nen und sich trauen, Hil­flosigkeit zu benen­nen. Hil­flosigkeit, die nicht jede irgend­wie zur Ver­fü­gung ste­hende medi­zinis­che Behand­lung recht­fer­ti­gen kann. Ger­ade dann, wenn sie irre­versible Langzeitschä­den zur Folge hat. Auch im Bere­ich der foren­sis­chen Psy­chi­a­trie.     fs

Patient 6412807* hat jetzt keinen Betreuer mehr.

Und das war passiert:

Ich werde im Novem­ber 2024 durch einst­weilige Anord­nung bestellt. Die Bestel­lung ist befris­tet bis zum 18.05.2025. Der Betreute ist unbekan­nt. Zumin­d­est namentlich. Die Bestel­lung erfol­gt daher für Patient Nr. 6412807 ein­er Ham­burg­er Klinik. Dort liegt Patient Nr. 6412807 auf der Inten­sivs­ta­tion. Kün­stlich beat­met und dial­y­sepflichtig, kurz vor einem Mul­ti­or­gan­ver­sagen. Der Betreute ist Ende 30 und brach auf ein­er Park­bank zusam­men. Die Diag­nose: Ent­gleis­ter Dia­betes mel­li­tus Typ I mit Ketoazi­dose und Enzephalopathie auf dem Boden ein­er Poly­toxiko­manie. Die Enzephalopathie beschreibt eine Schädi­gung von Hirn­funk­tio­nen. Das Über­leben ist ungewiss.

Der Betreute wird in den fol­gen­den Monat­en in ver­schiede­nen Ham­burg­er Kliniken behan­delt und ist nach einiger Zeit wieder ansprech­bar, auch wenn gewisse hirnor­gan­is­che Ein­schränkun­gen deut­lich sicht­bar bleiben. Patient Nr. 6412807 kann mir seinen Namen ver­rat­en, so dass ich endlich einen Betreuer­ausweis mit der richti­gen Iden­tität des Betreuten in den Hän­den halte. Die Betreu­ung mit den Auf­gaben­bere­ichen der Gesund­heitssorge und der Behör­den- bzw. Sozialver­sicherungsan­gele­gen­heit­en macht dur­chaus Sinn. Ich kann vor­läu­fig Leis­tun­gen nach dem SGB II sich­er­stellen, für einen Kranken­ver­sicherungss­chutz sor­gen und auch die Weit­er­be­hand­lung im Rah­men ein­er Frühre­ha­bil­i­ta­tion sich­er­stellen. Der Betreute nimmt die Hil­fe dank­end an.

Im Mai 2025 lebt der Betreute in ein­er von mir organ­isierten Notun­terkun­ft und ist ambu­lant an eine umfassende ärztliche und ther­a­peutis­che Weit­er­be­hand­lung ange­bun­den. Er wartet darauf, dass er mit der geplanten sta­tionären Sucht­ther­a­pie begin­nen kann. Dass er mit Ende 30 fast gestor­ben wäre, hat ihn inner­lich aufgerüt­telt. Langzeitschä­den sind wahrschein­lich. Noch immer fällt ihm das Sprechen und Schluck­en schw­er.

Das Betreu­ungs­gericht fragt mich, ob eine Betreu­ung auch in der Haupt­sache notwendig und sin­nvoll erscheine. Ich beja­he und berichte über den bish­eri­gen Ver­lauf. Außer­dem erk­läre ich, dass der Betreute mit ein­er Betreu­ung ein­ver­standen sei und meine Hil­fe weit­er­hin in Anspruch nehmen wolle. Ich füge auch die lan­gen Ent­las­sungs­berichte aus den behan­del­nden Ham­burg­er Kliniken bei.

Dann passiert über Wochen gar nichts. Es gibt wed­er weit­ere Rück­fra­gen noch einen Beschluss für die Ein­hol­ung eines Sachver­ständi­gengutacht­en, um den Sachver­halt weit­er aufzuk­lären. Am 18.05.2025 erre­ichen wir den Tag, bis zu dem meine Bestel­lung mit einst­weiliger Anord­nung aus dem Novem­ber 2024 befris­tet war. Ich weise das Gericht noch am sel­ben Tag auf diesen Umstand hin.

Bere­its am 19.05.2025 erre­icht mich die Antwort des Gerichts: Suchterkrankun­gen recht­fer­tigten keine Betreuerbestel­lung. Es sei daher die form­lose Ein­stel­lung beab­sichtigt. Die vor­läu­fige Bestel­lung sei außer Kraft.

Das Gericht ver­weist in seinem Schreiben vom 19.05.2025 nicht nur auf eine Entschei­dung des BGH vom 25.03.2015 (XII ZA 12/15), die inhaltlich nicht wirk­lich etwas mit der Frage zu tun hat, ob eine Suchterkrankung eine Betreuerbestel­lung recht­fer­ti­gen kann, da sie sich in erster Lin­ie mit den Voraus­set­zun­gen der zivil­rechtlichen Unter­bringung zum Schutz vor Selb­st­ge­fährdung bei einem alko­holkranken Betrof­fe­nen befasst, son­dern es zeigt auch deut­lich, was man in let­zter Zeit auf­grund der Über­las­tung des gesamten Sys­tems Betreu­ung immer häu­figer beobacht­en muss: Dass auch Gerichte häu­fig keine Lust mehr haben, ihre Arbeit zu erledi­gen.

Eine Suchterkrankung allein kann keine Bestel­lung eines Betreuers i.S.d. § 1814 Abs. 1 BGB begrün­den. Das war auch schon vor der Ein­führung des § 1814 BGB mit Blick auf den § 1896 BGB a.F. so. Hier hat sich also durch die Reform des Vor­mund­schafts- und Betreu­ungsrechts nicht wirk­lich etwas geän­dert. Das Gericht hat sodann im Rah­men des Amt­ser­mit­tlungs­grund­satzes — nöti­gen­falls unter Ein­hol­ung eines Sachver­ständi­gengutacht­ens — aufzuk­lären, ob die Suchterkrankung — etwa durch ihren jew­eili­gen Schw­ere­grad und/oder aus ihr resul­tieren­der physis­ch­er bzw. psy­chis­ch­er Beein­träch­ti­gun­gen einen Zus­tand zur Folge hat, der es einem Volljähri­gen nicht mehr erlaubt, seine Angele­gen­heit­en ganz oder teil­weise selb­st zu besor­gen. Das wiederum ist auch bei jed­er anderen Erkrankung oder Behin­derung i.S.d. § 1814 Abs. 1 BGB der Fall. Hier hätte eine solche Aufk­lärung des Sachver­haltes ohne jeden Zweifel ergeben, dass die Voraus­set­zun­gen für eine Betreuerbestel­lung auch in der Haupt­sache vor­liegen. Dazu hätte nur das Gericht tätig wer­den müssen, dem auch im Bere­ich des Betreu­ungsrechts die Sich­er­stel­lung eines rechtsstaatlichen Ver­fahrens obliegt.     fs

*Patien­ten­num­mer aus Daten­schutz­grün­den geän­dert.

Todkrank. Sterbewillig. Kein Zugang zu einem tödlichen Medikament.

Das Bun­desver­fas­sungs­gericht hat bere­its mit Urteil vom 26. Feb­ru­ar 2020 (2 BvR 2347/15 u.a.) das Ver­bot der geschäftsmäßi­gen Förderung der Selb­st­tö­tung für ver­fas­sungswidrig erk­lärt. Das all­ge­meine Per­sön­lichkeit­srecht umfasse als Aus­druck per­sön­lich­er Autonomie ein Recht auf ein selb­st­bes­timmtes Ster­ben. Die Frei­heit, sich das Leben zu nehmen, umfasse weit­er­hin auch die Frei­heit, hier­für bei Drit­ten Hil­fe zu suchen und Hil­fe, soweit sie ange­boten werde, in Anspruch zu nehmen. Die Entschei­dung stärk­te damit ins­beson­dere die Rechte von schw­er erkrank­ten Men­schen, die selb­st­bes­timmt über das Ende ihres Lebens entschei­den wollen.

In der Fol­gezeit stellte sich indes her­aus, dass schlichtweg ein Zugang zu Medika­menten fehlt, die geeignet sind, das Leben auf humane Weise zu been­den. Ein solch­es Medika­ment ist beispiel­sweise das Bar­bi­tu­rat Natri­um-Pen­to­bar­bi­tal, das schon lange in der Tier­medi­zin einge­set­zt wird. Anträge auf Erteilung ein­er Erlaub­nis zum Erwerb von Natri­um-Pen­to­bar­bi­tal zum Zwecke der Selb­st­tö­tung lehnte das Bun­desin­sti­tut für Arzneimit­tel und Medi­z­in­pro­duk­te ab. Das Bun­desve­wal­tungs­gericht entsch­ied sodann am 7. Novem­ber 2023 (3 C 8.22 u.a.), dass diese Entschei­dung recht­mäßig sei. Das Gericht argu­men­tierte, dass seit der Entschei­dung des Bun­desver­fas­sungs­gerichts aus dem Jahr 2020 ver­schiedene Organ­i­sa­tio­nen die Ver­mit­tlung von Ärzten aufgenom­men hät­ten, die bere­it seien, Suizid­hil­fe zu leis­ten. Die aus einem Fehlge­brauch resul­tieren­den Gefahren für Leben und Gesund­heit der Bevölkerung seien angesichts der ein­fachen Anwend­barkeit des Prä­parates Natri­um-Pen­to­bar­bi­tal demge­genüber zu hoch.

Es stellt sich in diesem Zusam­men­hang die Frage, ob von ein­er echt­en Frei­heit, sich das Leben zu nehmen, gesprochen wer­den kann, wenn Ster­be­wil­lige zunächst einen Arzt find­en müssen, der bere­it ist, ihnen beim Suizid zu helfen. Auch im Betreu­ungsrecht kommt es immer wieder zu Fällen, die Entschei­dun­gen an der Gren­ze zwis­chen Leben und Tod betr­e­f­fen.     fs