Wie wichtig Inklusion auch oder gerade bei schweren psychischen Erkrankungen ist, konnte ich gestern bei einem Besuch eines Betreuten erleben.
Der Betreute ist Ende 40 und leidet – selbst nach einem Behandlungsversuch mit Clozapin – unter einer weitestgehend chronifizierten und behandlungs- bzw. therapieresistenten Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Er ist freundlich im Kontakt, zeigt aber eine ausgeprägte Produktivsymptomatik. Eine Krankheits- oder Behandlungseinsicht besteht nicht. Trotz massiver Hospitalisierung in den letzten Jahren scheint eine freiheitsentziehende Unterbringung alternativlos, da der Betreute eine besondere Wohnform ablehnt und immer wieder angibt, zu einem Filmdreh nach Hollywood reisen zu wollen. Das Betreuungsgericht genehmigt mir diese nach Einholung eines Sachverständigengutachtens für ein Jahr.
Bundesweit lehnen den Betreuten nunmehr alle angefragten therapeutischen Wohneinrichtungen mit geschützt-geschlossenem Behandlungssetting ab. Die Begründungen eher fadenscheinig – der Betreute erscheint in erster Linie zu anstrengend im Kontakt. Der Träger der Eingliederungshilfe bewilligt daraufhin eine 24-stündige 1:1‑Betreuung, nachdem ich mit der Inanspruchnahme sozialgerichtlicher Hilfe drohe.
Ein kleiner ambulanter Pflegedienst in Hamburg – der bisher kaum Erfahrung mit der Versorgung schwer psychisch erkrankter Menschen hat – verfügt über einen freien Platz in einer betreuten Wohngemeinschaft und erklärt sich bereit, die 24-stündige 1:1‑Betreuung zu übernehmen.
Als ich den Betreuten gestern beim Pflegedienst besuche, finde ich ihn – erstmals nach vielen Jahren – deutlich stabilisiert vor. Er sitzt am Schreibtisch und ist gerade dabei, Pflegedokumentationen abzuheften. Der Betreute begrüßt mich freundlich und fragt, ob er mir einen Flyer des Pflegedienstes aushändigen dürfe.
Was ist passiert?
Die Pflegedienstleiterin erklärt mir, dass der Betreute über Langeweile geklagt habe. Daraufhin habe man sich gedacht, dass ihm eine Aufgabe fehle – das Gefühl, gebraucht zu werden. Der Betreute habe daraufhin morgens zusammen mit einer Betreuungskraft das Büro des Pflegedienstes besucht und angefangen, Dokumente zu lochen und abzuheften. Inzwischen stehe er jeden Morgen selbständig um 7 Uhr auf, gehe duschen, ziehe sich an und fahre dann mit einer Betreuungskraft in das Büro. Dort vermittle er mittlerweile sogar Telefonanrufe.
Der Betreute erzählt mir stolz, dass er jetzt Arbeit gefunden habe. Er sei Mitarbeiter eines Pflegedienstes und dürfe bei seinem Arbeitgeber auch noch wohnen.
Dann folgt auch noch sowas wie eine erstmalige Krankheitseinsicht innerhalb eines Zeitraums von 10 Jahren: Er könne den kranken und pflegebedürftigen Menschen gut weiterhelfen, denn mit dem “schwer krank sein” kenne er sich gut aus. fs