Inklusion und Teilhabe als Schlüssel zum Behandlungserfolg

Wie wich­tig Inklu­si­on auch oder gera­de bei schwe­ren psy­chi­schen Erkran­kun­gen ist, konn­te ich ges­tern bei einem Besuch eines Betreu­ten erle­ben.

Der Betreu­te ist Ende 40 und lei­det – selbst nach einem Behand­lungs­ver­such mit Clo­za­pin – unter einer wei­test­ge­hend chro­ni­fi­zier­ten und behand­lungs- bzw. the­ra­pie­re­sis­ten­ten Psy­cho­se aus dem schi­zo­phre­nen For­men­kreis. Er ist freund­lich im Kon­takt, zeigt aber eine aus­ge­präg­te Pro­duk­tiv­sym­pto­ma­tik. Eine Krank­heits- oder Behand­lungs­ein­sicht besteht nicht. Trotz mas­si­ver Hos­pi­ta­li­sie­rung in den letz­ten Jah­ren scheint eine frei­heits­ent­zie­hen­de Unter­brin­gung alter­na­tiv­los, da der Betreu­te eine beson­de­re Wohn­form ablehnt und immer wie­der angibt, zu einem Film­dreh nach Hol­ly­wood rei­sen zu wol­len. Das Betreu­ungs­ge­richt geneh­migt mir die­se nach Ein­ho­lung eines Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­tens für ein Jahr.

Bun­des­weit leh­nen den Betreu­ten nun­mehr alle ange­frag­ten the­ra­peu­ti­schen Wohn­ein­rich­tun­gen mit geschützt-geschlos­se­nem Behand­lungs­set­ting ab. Die Begrün­dun­gen eher faden­schei­nig – der Betreu­te erscheint in ers­ter Linie zu anstren­gend im Kon­takt. Der Trä­ger der Ein­glie­de­rungs­hil­fe bewil­ligt dar­auf­hin eine 24-stün­di­ge 1:1‑Betreuung, nach­dem ich mit der Inan­spruch­nah­me sozi­al­ge­richt­li­cher Hil­fe dro­he.

Ein klei­ner ambu­lan­ter Pfle­ge­dienst in Ham­burg – der bis­her kaum Erfah­rung mit der Ver­sor­gung schwer psy­chisch erkrank­ter Men­schen hat – ver­fügt über einen frei­en Platz in einer betreu­ten Wohn­ge­mein­schaft und erklärt sich bereit, die 24-stün­di­ge 1:1‑Betreuung zu über­neh­men.

Als ich den Betreu­ten ges­tern beim Pfle­ge­dienst besu­che, fin­de ich ihn – erst­mals nach vie­len Jah­ren – deut­lich sta­bi­li­siert vor. Er sitzt am Schreib­tisch und ist gera­de dabei, Pfle­ge­do­ku­men­ta­tio­nen abzu­hef­ten. Der Betreu­te begrüßt mich freund­lich und fragt, ob er mir einen Fly­er des Pfle­ge­diens­tes aus­hän­di­gen dür­fe.

Was ist pas­siert?

Die Pfle­ge­dienst­lei­te­rin erklärt mir, dass der Betreu­te über Lan­ge­wei­le geklagt habe. Dar­auf­hin habe man sich gedacht, dass ihm eine Auf­ga­be feh­le – das Gefühl, gebraucht zu wer­den. Der Betreu­te habe dar­auf­hin mor­gens zusam­men mit einer Betreu­ungs­kraft das Büro des Pfle­ge­diens­tes besucht und ange­fan­gen, Doku­men­te zu lochen und abzu­hef­ten. Inzwi­schen ste­he er jeden Mor­gen selb­stän­dig um 7 Uhr auf, gehe duschen, zie­he sich an und fah­re dann mit einer Betreu­ungs­kraft in das Büro. Dort ver­mitt­le er mitt­ler­wei­le sogar Tele­fon­an­ru­fe.

Der Betreu­te erzählt mir stolz, dass er jetzt Arbeit gefun­den habe. Er sei Mit­ar­bei­ter eines Pfle­ge­diens­tes und dür­fe bei sei­nem Arbeit­ge­ber auch noch woh­nen.

Dann folgt auch noch sowas wie eine erst­ma­li­ge Krank­heits­ein­sicht inner­halb eines Zeit­raums von 10 Jah­ren: Er kön­ne den kran­ken und pfle­ge­be­dürf­ti­gen Men­schen gut wei­ter­hel­fen, denn mit dem “schwer krank sein” ken­ne er sich gut aus.     fs

Unerfüllter Wunsch nach Nähe – der Kampf einer jungen schwer kranken Frau gegen gesellschaftliche Tabus und bürokratische Hürden

Nina* ist 36 und lebt im Ham­bur­ger Stadt­teil Wands­bek. Im Ein­gangs­be­reich der bar­rie­re­frei­en 2‑Zim­mer-Woh­nung schmückt eine Gir­lan­de aus bun­ten Blu­men einen gro­ßen Spie­gel, vor dem ein han­dels­üb­li­ches Regal als Abstell­mög­lich­keit für Schmink­uten­si­li­en und sport­li­che Snea­k­er dient. Auf den ers­ten Blick wirkt alles ganz nor­mal – wie in der Woh­nung einer jun­gen allein­ste­hen­den Frau.

Nur ein Zim­mer wei­ter wird klar, dass die­ser Ein­druck trügt: Nina liegt in einem Pfle­ge­bett. Am Bett sind ver­schie­de­ne medi­zi­ni­sche Gerä­te befes­tigt, dar­un­ter eine Ernäh­rungs­pum­pe, weil ihr seit eini­ger Zeit das Schlu­cken kaum noch mög­lich ist – Nina hat Mul­ti­ple Skle­ro­se, eine neu­ro­de­ge­nera­ti­ve Erkran­kung des zen­tra­len Ner­ven­sys­tems, unter der nach Anga­ben der Deut­schen Mul­ti­ple Skle­ro­se Gesell­schaft ca. 280.000 Men­schen in Deutsch­land lei­den. Bei Nina ist die­se Erkran­kung, die vor 10 Jah­ren erst­mals dia­gnos­ti­ziert wur­de, unge­wöhn­lich weit fort­ge­schrit­ten, so dass ein Ver­bleib im häus­li­chen Umfeld nur noch durch umfang­rei­che Hil­fen mög­lich ist: Ein Pfle­ge­dienst küm­mert sich rund um die Uhr um die jun­ge Frau. Durch eine recht­li­che Betreu­ung kann die Finan­zie­rung der pfle­ge­ri­schen Leis­tun­gen sicher­ge­stellt wer­den.

Ein Bedürf­nis, über das nur sel­ten gespro­chen wird

Bis zur Dia­gno­se vor 10 Jah­ren führ­te Nina ein ziem­lich nor­ma­les Leben: Sie war sport­lich aktiv, hat­te einen gro­ßen Freun­des­kreis und war als Stu­den­tin in ein Lehr­amts­stu­di­um ein­ge­schrie­ben. Mit der schwe­ren Erkran­kung kamen nicht nur mas­si­ve kör­per­li­che Ein­schrän­kun­gen, son­dern auch die Ein­sam­keit. Von dem frü­he­ren Leben ist 10 Jah­re spä­ter kaum noch etwas spür­bar. Nina spricht heu­te vor allem offen dar­über, dass sie trotz ihrer schwe­ren Erkran­kung auch noch sexu­el­le Bedürf­nis­se hat – den Wunsch nach Berüh­rung, Zärt­lich­keit, einem erfüll­ten Lie­bes­le­ben. Doch die Erkran­kung schränkt Nina kör­per­lich so weit ein, dass ihr Zugang zur Sexua­li­tät abhän­gig von exter­ner Hil­fe ist – einer soge­nann­ten Sexu­al­as­sis­tenz.

Von Sexu­al­as­sis­ten­tin­nen und Sexu­al­as­sis­ten­ten, also Per­so­nen, die Men­schen, die durch eine Erkran­kung oder Behin­de­rung stark kör­per­lich beein­träch­tigt sind, in den intims­ten Momen­ten hel­fend zur Sei­te ste­hen, gibt es bun­des­weit aber nur weni­ge. Sexu­al­as­sis­tenz fällt hier zu Lan­de als sexu­el­le Dienst­leis­tung näm­lich unter das Pro­sti­tu­ti­ons­ge­setz. Trotz­dem gelingt es, für Nina eine geeig­ne­te Sexu­al­as­sis­ten­tin zu fin­den, die sich monat­lich mit ihr trifft. Im Monat ent­ste­hen dadurch meh­re­re hun­dert Euro an Kos­ten. Geld, das Nina nicht hat. Die Erspar­nis­se nei­gen sich schnell dem Ende zu.

Nähe als Luxus­gut

Wäh­rend auf klas­si­sche Leis­tun­gen der Pfle­ge und Ein­glie­de­rungs­hil­fe nach den Vor­schrif­ten des Sozi­al­ge­setz­bu­ches ein Rechts­an­spruch besteht, bewegt sich Sexu­al­as­sis­tenz noch immer in einem recht­li­chen Grau­be­reich zwi­schen ech­ter Inklu­si­on und dem Recht auf Aus­übung einer selbst­be­stimm­ten Sexua­li­tät sowie sexu­el­len Hand­lun­gen als Dienst­leis­tung.

Die Stadt Ham­burg ver­tritt hier­zu die Auf­fas­sung, dass es sich nicht um Leis­tun­gen der Ein­glie­de­rungs­hil­fe han­de­le, da es nicht Ziel sei, die gleich­be­rech­tig­te Teil­ha­be am Leben in der Gemein­schaft zu ermög­li­chen. Auch ein Anspruch nach den Vor­schrif­ten des SGB XII (Sozi­al­hil­fe) sei nicht gege­ben. Die Auf­ga­be der Sozi­al­hil­fe beschrän­ke sich dar­auf, dem Leis­tungs­emp­fän­ger ein Leben zu ermög­li­chen, das der Wür­de des Men­schen ent­spre­che. Dies umfas­se zwar über die not­wen­di­gen Mit­tel für ein Exis­tenz­mi­ni­mum hin­aus die Mit­tel, die der Art und dem Umfang nach ein den „herr­schen­den Lebens­ge­wohn­hei­ten“ ori­en­tier­tes Leben ermög­li­che, eine Stei­ge­rung der Lebens­qua­li­tät, zu der eine Sexu­al­as­sis­tenz zuzu­ord­nen sei, gehö­re jedoch nicht zu den Auf­ga­ben der Sozi­al­hil­fe. Viel­mehr sei die Bewil­li­gung der Kos­ten für eine Sexu­al­as­sis­tenz eine Bes­ser­stel­lung und kei­ne Gleich­stel­lung gegen­über Men­schen, die eine sol­che Leis­tung nicht erhal­ten wür­den. Ein Leben in Wür­de sei auch ohne eine Sexu­al­as­sis­tenz mög­lich.

Sexu­al­as­sis­tenz als Bes­ser­stel­lung?

Das Recht auf sexu­el­le Selbst­be­stim­mung ist ein Grund­recht, von dem auch behin­der­te Men­schen nicht aus­ge­schlos­sen wer­den dür­fen. Sind die kör­per­li­chen Beein­träch­ti­gun­gen erheb­lich, ist die Sexu­al­as­sis­tenz häu­fig der ein­zi­ge Schlüs­sel zur Aus­übung der Sexua­li­tät – ins­be­son­de­re dann, wenn neu­ro­lo­gi­sche Stö­run­gen, unkon­trol­lier­ba­re Mus­kel­kon­trak­tio­nen, Koor­di­na­ti­ons­pro­ble­me und eine Schwä­chung der Mus­ku­la­tur Sexua­li­tät ohne Hil­fe nahe­zu uner­reich­bar erschei­nen las­sen. Sexua­li­tät und Inti­mi­tät sind mensch­li­che Grund­be­dürf­nis­se und kein Luxus. Dem Sozi­al­hil­fe­trä­ger kann des­halb auch nicht das Recht zuste­hen, für Men­schen dar­über zu ent­schei­den, ob ein Leben in Wür­de auch ohne Sexua­li­tät mög­lich ist. Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on dür­fen nicht da auf­hö­ren, wo es um den Zugang zu einem sol­chen mensch­li­chen Grund­be­dürf­nis geht. In die­sem Zusam­men­hang kann dann jeden­falls auch von einer Bes­ser­stel­lung kei­ne Rede sein, da Men­schen ohne eine kör­per­li­che Beein­träch­ti­gung aus­rei­chend Mög­lich­kei­ten haben dürf­ten, Sexua­li­tät – auch ohne einen Part­ner – zu erle­ben.

Ein Pfle­ger nutzt die Not­la­ge aus

Beim zustän­di­gen Sozi­al­hil­fe­trä­ger in Ham­burg ist nun­mehr ein für Nina gestell­ter Antrag auf Über­nah­me der Kos­ten für eine Sexu­al­as­sis­tenz abge­lehnt wor­den. Für sie heißt es, den Aus­gang des Rechts­mit­tel­ver­fah­rens abzu­war­ten.

Zwi­schen­zeit­lich ver­traut sich Nina einer Pfle­ge­kraft an: Ein Pfle­ger aus ihrem Team habe mit ihr Sex gehabt, angeb­lich um ihr in ihrer Not­si­tua­ti­on zu hel­fen. Der Pfle­ger soll den sexu­el­len Kon­takt gegen­über der Pfle­ge­dienst­lei­te­rin des Pfle­ge­diens­tes ein­ge­räumt haben und wird frist­los gekün­digt. Es folgt eine Straf­an­zei­ge wegen des sexu­el­len Miss­brauchs unter Aus­nut­zung eines Beratungs‑, Behand­lungs- oder Betreu­ungs­ver­hält­nis­ses, straf­bar nach § 174c des Straf­ge­setz­bu­ches. Es kommt dar­auf­hin zu einer Video­ver­neh­mung von Nina durch das zustän­di­ge Lan­des­kri­mi­nal­amt, doch Nina ist krank­heits­be­dingt kaum noch in der Lage, geord­ne­te ver­wert­ba­re Anga­ben zur Sache zu machen. Die Staats­an­walt­schaft Ham­burg stellt das Ver­fah­ren gegen den Pfle­ger, der die Tat inzwi­schen bestrei­tet, ein. Auch eine Beschwer­de gegen die Ein­stel­lung des Ver­fah­rens bleibt ohne Erfolg.

Kei­ne Fra­ge, Pfle­ge­kräf­te genie­ßen ähn­lich wie Ärz­te und ande­re medi­zi­ni­sche Fach­kräf­te eine beson­de­re Ver­trau­ens­stel­lung. Sexu­el­le Hand­lun­gen sind in kei­ner Wei­se mit pfle­ge­ri­schen Ver­rich­tun­gen in Ein­klang zu brin­gen. Wer sich einer pro­fes­sio­nell han­deln­den Pfle­ge­kraft anver­traut, muss sich sicher sein kön­nen, dass sexu­el­le Inter­es­sen kei­ne Rol­le spie­len. Es bleibt aber die Fra­ge, ob die Hal­tung der Sozi­al­leis­tungs­trä­ger nicht zumin­dest dazu bei­getra­gen hat, dass ein Pfle­ger die Not­si­tua­ti­on der jun­gen Frau aus­nut­zen konn­te – eine Not­si­tua­ti­on, die dar­auf beruht, dass ein mensch­li­ches Grund­be­dürf­nis vor­ent­hal­ten blei­ben soll.

Auch die Recht­spre­chung ist sich bis­her unei­nig

In der Recht­spre­chung konn­te die Rechts­fra­ge, ob es sich bei der Sexu­al­as­sis­tenz um eine von Sozi­al­leis­tungs­trä­gern zu finan­zie­ren­de Leis­tung han­delt, immer noch nicht abschlie­ßend geklärt wer­den. Bis­her sind Gerich­te jeden­falls zu ganz unter­schied­li­chen Ergeb­nis­sen gekom­men. Der Baye­ri­sche Ver­wal­tungs­ge­richts­hof ent­schied bei­spiels­wei­se im Jahr 2006 zum Akten­zei­chen 12 BV 06.320, dass ein Anspruch nicht nach den Vor­schrif­ten der Ein­glie­de­rungs­hil­fe nach dem SGB IX bestehe, da die Sexu­al­as­sis­tenz der Befrie­di­gung sexu­el­ler Bedürf­nis­se die­ne und nicht der Teil­nah­me am Leben in der Gemein­schaft – es wür­den näm­lich kei­ner­lei Kon­tak­te in die Außen­welt ver­mit­telt. Das Lan­des­so­zi­al­ge­richt Thü­rin­gen ver­nein­te dar­über hin­aus im Jahr 2008 zum Akten­zei­chen L 1 SO 619/08 ER einen Anspruch gegen die gesetz­li­che Kran­ken­ver­si­che­rung.

Dem­ge­gen­über ent­schied das Sozi­al­ge­richt Han­no­ver erst im Jahr 2022 zum Akten­zei­chen S 58 U 134/18, dass die Kos­ten für eine Sexu­al­as­sis­tenz im Rah­men eines per­sön­li­chen Bud­gets zu erbrin­gen sei­en. Die Sexu­al­be­glei­tung stel­le – so das Sozi­al­ge­richt – eine Leis­tung zur Sozia­len Teil­ha­be im Sin­ne des § 76 SGB IX (Ein­glie­de­rungs­hil­fe) dar. Die Sexu­al­be­glei­tung sei auch geeig­net und erfor­der­lich, um die gesell­schaft­li­che Inte­gra­ti­on zu ermög­li­chen. Dem ste­he auch nicht ent­ge­gen, dass die Sexu­al­kon­tak­te aus­schließ­lich in einem von der Außen­welt abge­son­der­ten und geschütz­ten Intim­be­reich statt­fin­den wür­den und kei­ne Kon­tak­te nach außen ver­mit­teln. Ande­re geeig­ne­te Mit­tel zur Ermög­li­chung einer selbst­be­stimm­ten Sexua­li­tät als die Inan­spruch­nah­me von Sexu­al­be­glei­tung sei­en gegen­wär­tig nicht zu erken­nen.

Auch Nina war­tet seit 2022 auf die Ent­schei­dung über eine Kla­ge, die beim Sozi­al­ge­richt Ham­burg erho­ben wur­de. Bis zu einer Ent­schei­dung bleibt ihr die Aus­übung einer selbst­be­stimm­ten Sexua­li­tät vor­ent­hal­ten – die Sexu­al­as­sis­tenz kann nicht mehr aus eige­nen Mit­teln finan­ziert wer­den. Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on und Teil­ha­be sehen anders aus.     fs

*Name ver­än­dert

Bild­nach­weis: iStock­pho­to 1383859162, © istock­pho­to / Ele­na Niko­n­o­va

Wenn Streiten zum Prinzip wird

Nicht nur in mili­tä­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen gibt es soge­nann­te Stell­ver­tre­ter­krie­ge. Es gibt sie – in etwas ande­rer Form – lei­der auch im Fami­li­en­recht. Dann, wenn Eltern um das Kind strei­ten, es eigent­lich aber noch um nicht ver­ar­bei­te­te Kon­flik­te, Ver­let­zun­gen und Ent­täu­schun­gen auf der Paa­re­be­ne geht. Das ist nicht nur destruk­tiv, son­dern es scha­det vor allem dem Kind.

In einem aktu­el­len fami­li­en­ge­richt­li­chen Ver­fah­ren bin ich zum Ver­fah­rens­bei­stand bestellt wor­den. Die Eltern strei­ten seit Jah­ren vor dem Fami­li­en­ge­richt. Es waren zahl­rei­che Ver­fah­ren bezüg­lich des Sor­ge- und Umgangs­rechts anhän­gig. Hin­ter­grund ist eine kurz­zei­ti­ge Ehe, aus der ein gemein­sa­mes Kind her­vor­ge­gan­gen war, das sich inzwi­schen im Grund­schul­al­ter befin­det. Die Fron­ten könn­ten kaum ver­här­te­ter sein. Die Mut­ter behaup­tet, vom Kin­des­va­ter in der Ehe kör­per­lich miss­han­delt wor­den zu sein. Ein straf­ge­richt­li­ches Ver­fah­ren brach­te kein Licht ins Dunk­le, das Ver­fah­ren wur­de ein­ge­stellt. Es gab eine “Aus­sa­ge gegen Aussage”-Konstellation. Unstrei­tig ist, dass sich der Vater stets für­sorg­lich um das gemein­sa­me Kind küm­mer­te. Bei­de Eltern leben inzwi­schen in neu­en Part­ner­schaf­ten. Das Kind wird für die Umgän­ge vom neu­en Part­ner der Mut­ter an den Vater über­ge­ben, was von bei­den Eltern als sinn­voll und kon­struk­tiv beschrie­ben wird. Die Über­ga­be erfolgt seit Jah­ren auf einem Spiel­platz. Der Kin­des­mut­ter gehe es – so beschreibt sie es jeden­falls sel­ber – um ihre Sicher­heit.

In dem nun­meh­ri­gen Ver­fah­ren geht es um einen Antrag des Kin­des­va­ters nach § 1686 BGB. Danach kann jeder Eltern­teil vom ande­ren Eltern­teil bei berech­tig­tem Inter­es­se Aus­kunft über die per­sön­li­chen Ver­hält­nis­se des Kin­des ver­lan­gen, soweit dies dem Wohl des Kin­des nicht wider­spricht. Kon­kret geht es um die Wohn­an­schrift des Kin­des bei der Kin­des­mut­ter, die dem Kin­des­va­ter nicht bekannt sei und wes­halb die Über­ga­be seit Jah­ren auf dem Spiel­platz statt­fin­de. Das Ziel des Aus­kunfts­be­geh­rens zum jet­zi­gen Zeit­punkt unklar.

Ich besu­che das Kind im häus­li­chen Umfeld der Kin­des­mut­ter. Im Gespräch mit mir bricht die Kin­des­mut­ter in Trä­nen aus, erzählt über die für sie trau­ma­ti­schen Erleb­nis­se mit dem Kin­des­va­ter. Sie befin­de sich des­halb in The­ra­pie. Die Aus­kunfts­sper­re im Mel­de­re­gis­ter bedeu­te für sie einen gewis­sen Schutz ihres Lebens­mit­tel­punk­tes. Mit einer Desta­bi­li­sie­rung ihrer psy­chi­schen Ver­fas­sung sei zu rech­nen, wenn der Kin­des­va­ter vor dem Abschluss der the­ra­peu­ti­schen Auf­ar­bei­tung über die Anschrift ver­fü­ge.

Ich emp­feh­le dem Gericht, den Antrag abzu­leh­nen. Aus mei­ner Sicht kann dahin­ste­hen, ob es tat­säch­lich zu den von der Kin­des­mut­ter behaup­te­ten Ereig­nis­sen gekom­men ist. Allein der Umstand, dass die Kin­des­mut­ter die Mit­tei­lung ihrer Wohn­an­schrift sub­jek­tiv als Bedro­hung erlebt und dar­un­ter desta­bi­li­sie­ren könn­te, was auch ihr The­ra­peut in einer für das Gericht bestimm­ten Stel­lung­nah­me bestä­tigt, führt dazu, dass die Ver­pflich­tung zur Mit­tei­lung der Wohn­an­schrift gegen­über dem Kin­des­va­ter mit dem Wohl des Kin­des, das sei­nen Lebens­mit­tel­punkt bei der Kin­des­mut­ter hat, nicht in Ein­klang zu brin­gen ist. Hin­zu kommt, dass der Kin­des­va­ter die Umgän­ge seit Jah­ren zuver­läs­sig wahr­neh­men kann – auch ohne die Wohn­an­schrift zu ken­nen. Das Fami­li­en­ge­richt teilt mei­ne Auf­fas­sung.

Zum Ende der Anhö­rung die über­ra­schen­de Wen­de: Die Ver­fah­rens­be­voll­mäch­tig­te des Kin­des­va­ters erklärt, dass ihr die Anschrift der Kin­des­mut­ter längst bekannt sei. Ihr Man­dant wol­le die Anschrift aber von der Kin­des­mut­ter hören. Es gehe ihm um das Prin­zip. Alle Anwe­sen­den ver­dre­hen die Augen.

Paar­be­zie­hun­gen und Ehen kön­nen schei­tern. Tra­gi­scher­wei­se häu­fig gera­de dann, wenn ein Kind mit im Spiel ist und man sich – auch unter Berück­sich­ti­gung einer neu­en All­tags- und Lebens­si­tua­ti­on – noch ein­mal von einer ganz ande­ren Sei­te ken­nen­lernt. Zum Glück leben wir in einer Zeit, in der das – zumin­dest in unse­rer Kul­tur – gesell­schaft­li­che Akzep­tanz fin­det. Das Leben ist zu kurz, um in einer dau­er­haft unglück­li­chen Bezie­hung zu blei­ben. Selbst dann, wenn Haus und Hof sowie ehe­li­che Lebens­ge­mein­schaft auf dem Spiel ste­hen. Patch­work­kon­stel­la­tio­nen sind inzwi­schen genau so nor­mal wie klas­si­sche Fami­li­en- und Lebens­kon­struk­te. Sie kön­nen sogar für alle Betei­lig­ten eine Chan­ce sein.

Auch Kin­der kön­nen unter die­sen Bedin­gun­gen scha­den­frei auf­wach­sen. Vor­aus­set­zung dafür ist vor allem eine gan­ze Men­ge Dis­zi­plin der Kin­des­el­tern und die Bereit­schaft, das Wohl des Kin­des über die eige­nen Inter­es­sen und Befind­lich­kei­ten zu stel­len. Häu­fig eine Mam­mut­auf­ga­be, für deren Bewäl­ti­gung es manch­mal auch pro­fes­sio­nel­ler Hil­fe und Unter­stüt­zung bedarf. Für das Ziel, dem gemein­sa­men Kind ein unbe­las­te­tes und kind­ge­rech­tes Leben außer­halb der elter­li­chen Streit­kul­tur zu ermög­li­chen, soll­te man den Auf­wand jedoch nicht scheu­en.

Fami­li­en­ge­rich­te kön­nen den Weg nur ebnen. Gehen müs­sen ihn die Kin­des­el­tern selbst. Eine wich­ti­ge Rol­le über­neh­men dabei auch Rechts­an­wäl­te. Gute und erfah­re­ne Rechts­an­wäl­te im Fami­li­en­recht strei­ten nicht aus Prin­zip. Sie ver­su­chen in kind­schafts­recht­li­chen Ver­fah­ren am Kin­des­wohl ori­en­tier­te Lösun­gen zu fin­den. Im Ide­al­fall haben sie auch ihre Man­dan­ten ein wenig im Griff.     fs

Bild­nach­weis: KI-Gene­rie­rung (Per­ple­xi­ty)

Bis dass der Tod euch scheidet – oder das Betreuungsgericht

Das dach­te sich zumin­dest eine gewief­te Frau (Mit­te 50) aus Ham­burg. Aber fan­gen wir von vor­ne an.

Ich wur­de vom Betreu­ungs­ge­richt für einen älte­ren Herrn (Ende 70) zum Berufs­be­treu­er bestellt. Ange­regt hat­te die Betreu­ung sei­ne Ehe­frau, die auch gleich ein ärzt­li­ches Attest vor­ge­legt hat­te. Die sich dar­aus erge­ben­de Dia­gno­se: Kor­sa­kow-Syn­drom. Die Fähig­keit zur frei­en Wil­lens­bil­dung sei beein­träch­tigt. Das Ziel: Eine geschützt-geschlos­se­ne Ein­rich­tung, mög­lichst auf demen­zi­ell ver­än­der­te Men­schen ein­ge­rich­tet, so lan­ge wie mög­lich.

Der Betrof­fe­ne war damit nicht ein­ver­stan­den. Und er ver­such­te in einem Kran­ken­haus – in dem er inzwi­schen behan­delt wur­de – alles, um auch Drit­te davon zu über­zeu­gen, dass er durch­aus noch Herr sei­ner Sin­ne sei. Das reich­te zumin­dest dafür, die zustän­di­ge Betreu­ungs­rich­te­rin, die sich zunächst ent­schie­den hat­te, die Ehe­frau des Betrof­fe­nen zu ehren­amt­li­chen Betreue­rin zu bestel­len, zwei­feln zu las­sen. Sie bestell­te mich daher neben der Ehe­frau zum Berufs­be­treu­er.

Ich besuch­te den Betrof­fe­nen dar­auf­hin im
Kran­ken­haus. Das Gespräch war völ­lig geord­net mög­lich. Die Geschich­te, die mir der Betrof­fe­ne erzähl­te, durch­aus – zumin­dest in gewis­ser Wei­se – film­reif. Die Ehe­frau, immer­hin 25 Jah­re jün­ger, hat­te seit eini­ger Zeit eine Lieb­schaft. Der Betrof­fe­ne war in die Jah­re gekom­men und pfle­ge­be­dürf­tig. Er hat­te – so schil­der­te er es zumin­dest – aus Frust das eine oder ande­re Mal etwas über den Durst getrun­ken. Eine Schei­dung schien zu kom­pli­ziert und auch zu teu­er. Die Idee, den Betrof­fe­nen lang­fris­tig unter­zu­brin­gen, war gebo­ren. Hät­te auch eigent­lich ganz gut funk­tio­niert, wäre ich nicht als Berufs­be­treu­er dazwi­schen gekom­men.

Inzwi­schen hat das Betreu­ungs­ge­richt die Ehe­frau wegen Inter­es­sen­kon­flik­ten aus der Betreu­ung ent­las­sen. Für den Betrof­fe­nen konn­te eine betreu­te und selbst­ver­ständ­lich offe­ne Wohn­form gefun­den wer­den, denn zurück­keh­ren zu Ehe­frau in das häus­li­che Umfeld woll­te er dann auch nicht mehr.

Eine Geschich­te, wie sie nur das Leben schreibt. Was wir dar­aus ler­nen kön­nen? Augen auf bei der Part­ner­wahl. Dein Part­ner könn­te irgend­wann auch dein recht­li­cher Betreu­er sein. Oder neu­er­dings in den Genuss des Ehe­gat­ten­not­ver­tre­tungs­rechts kom­men.

Mit dem Fall wird sich jetzt nicht nur das Betreu­ungs­ge­richt befas­sen, son­dern auch das Fami­li­en­ge­richt. Der Betrof­fe­ne möch­te sich schei­den las­sen.     fs

Bild­nach­weis: KI-Gene­rie­rung (Per­ple­xi­ty)

Warum Rechtsstaatlichkeit auch da nicht aufhören sollte, wo Strafgerichte über die Zukunft psychisch kranker Menschen entscheiden

Frei­tag, 4. Juli 2025. 12.00 Uhr. Für mei­nen Betreu­ten geht es – wie jedes Jahr – um alles. Eine Straf­voll­stre­ckungs­kam­mer beim Land­ge­richt hat über die Fra­ge der Fort­dau­er der Unter­brin­gung nach § 63 StGB zu ent­schei­den und es sieht schlecht aus: Der Zustand des Betreu­ten hat sich im zurück­lie­gen­den Jahr eher ver­schlech­tert. Die Erkran­kung, eine para­no­ide Schi­zo­phre­nie, ist schwer chro­ni­fi­ziert. Es besteht wei­test­ge­hend eine Behand­lungs­re­sis­tenz, die zu einer Hilf­lo­sig­keit des gesam­ten Behand­lungs­teams führt. Regel­mä­ßig wer­den auch fremd­ge­fähr­den­de Fehl­hand­lun­gen doku­men­tiert. Die ver­meint­li­che Lösung: Eine Unter­brin­gung seit meh­re­ren Jah­ren unter Bedin­gun­gen, die mit einer Iso­la­ti­ons­haft ver­gleich­bar sind. Zeit­wei­se wer­den bis zu acht Psy­cho­phar­ma­ka gleich­zei­tig ver­ab­reicht. Ver­schie­de­ne Sach­ver­stän­di­ge bean­stan­den die nicht leit­li­ni­en­ge­rech­te psy­cho­phar­ma­ko­lo­gi­sche Behand­lung, die inzwi­schen ver­mut­lich mit­ver­ant­wort­lich ist für eine aus­ge­präg­te und glo­ba­li­sier­te Hirn­vo­lu­men­min­de­rung. Der Betreu­te prä­sen­tiert dadurch mas­si­ve hirn­or­ga­ni­sche Beein­träch­ti­gun­gen.

Für mich als Berufs­be­treu­er und die Eltern als ehren­amt­li­che Betreu­er ist klar, dass wir eine Ent­las­sung aus dem Maß­re­gel­voll­zug unter die­sen Bedin­gun­gen nicht errei­chen kön­nen. Im Vor­der­grund steht für uns das Ziel, die Unter­brin­gungs­be­din­gun­gen zu ver­bes­sern und eine Ein­schrän­kung der Psy­cho­phar­ma­ka­the­ra­pie zu errei­chen. Im Novem­ber 2024 gebe ich dem Nord­deut­schen Rund­funk, der über den Fall berich­tet, ein Inter­view und erklä­re, dass eine Zwangs­be­hand­lung, die man­gels Erfolgs­aus­sicht nach dem Maß­re­gel­voll­zugs­ge­setz nicht zuläs­sig ist, den Straf­tat­be­stand der gefähr­li­chen Kör­per­ver­let­zung erfül­len könn­te.

Die Straf­voll­stre­ckungs­kam­mer hat mich nun­mehr zur Anhö­rung des Betreu­ten gela­den. Der Betreu­te sitzt zwi­schen zwei kräf­ti­gen Pfle­gern der Kli­nik in Hand­schel­len vor dem Gericht. Rechts neben ihm zwei Ärz­te der Kli­nik und ihre Syn­di­kus­an­wäl­tin. Die Kam­mer ver­kün­det sodann, dass sie die Syn­di­kus­an­wäl­tin der Kli­nik auf­grund der bestehen­den Aus­ein­an­der­set­zun­gen und der NDR-Bericht­erstat­tung zur Anhö­rung zuge­las­sen habe. Zugleich habe sie ent­schie­den, die Eltern des Betreu­ten und mich als gesetz­li­che Ver­tre­ter von der Anhö­rung aus­zu­schlie­ßen. Die Kam­mer wol­le ins­be­son­de­re Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen den Betreu­ern und der Kli­nik kei­nen Raum geben. Es sei – auch wenn dafür nicht die Eltern des Betreu­ten ver­ant­wort­lich sei­en – nach der Bericht­erstat­tung des NDR zu zer­sto­che­nen Auto­rei­fen und dem Ver­tei­len von Fly­ern auf dem Kli­nik­ge­län­de gekom­men.

Zurück bleibt ein schwer psy­chisch kran­ker Mensch mit sei­nem Pflicht­ver­tei­di­ger. Die Kli­nik mit fünf Mit­ar­bei­tern deut­lich in der Über­zahl. Der “Raus­wurf” der­je­ni­gen, die für die Ver­tre­tung der Inter­es­sen des psy­chisch kran­ken Men­schen bestellt sind, offen­bar durch eine Straf­voll­stre­ckungs­kam­mer insze­niert, um zu signa­li­sie­ren, dass die Inter­es­sen der behan­deln­den Ärz­te bei der Kam­mer deut­lich bes­ser auf­ge­ho­ben sind als die berech­tig­ten Belan­ge eines schwer kran­ken Men­schen, um des­sen Zukunft es geht.

Ein fai­res Ver­fah­ren sieht anders aus. Bei der Gesamt­wür­di­gung der für die Fra­ge der Unter­brin­gung maß­geb­li­chen Umstän­de soll­te schon vor dem Hin­ter­grund der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit regel­mä­ßig dis­ku­tiert wer­den, ob die Behand­lung über­haupt geeig­net ist, auch das Ziel der Bes­se­rung der Anlass­er­kran­kung zu errei­chen. Eine Straf­voll­stre­ckungs­kam­mer, die Betreu­er dafür abstraft, dass sie sich in die­sem Zusam­men­hang für die Inter­es­sen ihres Betreu­ten ein­set­zen, tritt den Rechts­staat mit Füßen.

Es bleibt abzu­war­ten, wie das Ober­lan­des­ge­richt den Sach­ver­halt beur­teilt.     fs

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Hirntod auf Raten: Warum wir dringend auch in der forensischen Psychiatrie über irreversible Langzeitschäden durch Psychopharmaka reden müssen

Es klingt pro­vo­ka­tiv, ist aber Fakt: Die Todes­stra­fe ist seit 1949 in Deutsch­land abge­schafft. Das ergibt sich aus dem Grund­ge­setz, das am 23. Mai 1949 in Kraft trat, nament­lich aus dem Arti­kel 102 GG. Und das Grund­ge­setz schließt – eben­so wie die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on – Fol­ter sowie men­schen­un­wür­di­ge Behand­lun­gen aus. Bedin­gungs­los. Auch dann, wenn Men­schen mit dem Gesetz in Kon­flikt gera­ten sind.

Jetzt ist in der Geschich­te der Mensch­heit das Pro­blem nicht neu, dass sich mit­un­ter auch die Medi­zin unter dem Deck­man­tel der Wis­sen­schaft Behand­lun­gen bedient, die als Fol­ter oder men­schen­un­wür­dig zu betrach­ten sind. Wenn man an die ärzt­li­chen Ver­bre­chen des Natio­nal­so­zia­lis­mus denkt, manch­mal aus der puren Lust am Quä­len. Oft­mals aber auch aus der Hilf­lo­sig­keit her­aus, etwa wenn das medi­zi­ni­sche Wis­sen und Ver­ständ­nis an sei­ne Gren­zen stößt. So wie bei­spiels­wei­se bei der Psy­cho­ch­ir­ur­gie in der Gestalt der Lobo­to­mie, wie man sie noch bis in die 1960er Jah­re durch­ge­führt hat. Das Ziel: Psy­chi­sche Erkran­kun­gen durch die Zer­stö­rung von Hirn­struk­tu­ren zu hei­len. Die Rea­li­tät: Häu­fig schwe­re Per­sön­lich­keits­ver­än­de­run­gen und Ver­lust der Intel­li­genz bis hin zu einer schwe­ren geis­ti­gen Behin­de­rung.

Zum Glück sind Men­schen lern­fä­hig. Zumin­dest hirn­chir­ur­gi­sche Ein­grif­fe, die auf die pure Zer­stö­rung von Hirn­struk­tu­ren abzie­len, gehö­ren – zumin­dest im euro­päi­schen Lebens­raum – der Ver­gan­gen­heit an. In der Psych­ia­trie ist das sicher­lich auch der Erfin­dung des ers­ten Neu­ro­lep­ti­kums, dem Chlor­pro­ma­zin, geschul­det, das in Deutsch­land 1953 unter dem Pro­dukt­na­men Mega­phen auf den Markt kam. Das Ver­spre­chen: Schwe­re psy­chi­sche Erkran­kun­gen wie Psy­cho­sen aus dem schi­zo­phre­nen For­men­kreis soll­ten sich fort­an men­schen­wür­dig und ohne mas­si­ve Lang­zeit­schä­den scho­nend behan­deln las­sen. Aber auch das stell­te sich schnell als falsch her­aus. Inzwi­schen kann durch ver­schie­de­ne Stu­di­en belegt wer­den, dass die län­ger­fris­ti­ge Behand­lung mit einem Neu­ro­lep­ti­kum – selbst im Rah­men der soge­nann­ten Mono­the­ra­pie, also der Behand­lung mit einem ein­zi­gen Wirk­stoff – das Gehirn schrump­fen lässt. In der Medi­zin nennt man das Hirn­atro­phie oder Hirn­vo­lu­men­min­de­rung. Eini­ge For­scher sagen, dass unklar sei, ob die­se Kom­pli­ka­ti­on (nur) durch Medi­ka­men­te bedingt sei oder schon die psy­chi­sche Erkran­kung selbst zum Ver­lust von Hirn­sub­stanz füh­re. Klar ist dar­über hin­aus auch, dass die Akzep­tanz einer Neu­ro­lep­ti­ka­be­hand­lung auf­grund erheb­li­cher Neben­wir­kun­gen häu­fig gering ist. Nicht sel­ten kommt es in der Akut­psych­ia­trie zur Hos­pi­ta­li­sie­rung und zum soge­nann­ten “Dreh­tür-Effekt”. Die Erkran­kung chro­ni­fi­ziert oder wird per­spek­ti­visch schlim­mer.

Natur­ge­mäß sind nun­mehr die meis­ten medi­zi­ni­schen und phar­ma­ko­lo­gi­schen The­ra­pien nicht risi­ko­los. Es muss durch Fach­leu­te stets der medi­zi­ni­sche Nut­zen mit den zu erwar­ten­den Risi­ken abge­wo­gen wer­den. Im Vor­der­grund steht hier das Selbst­be­stim­mungs­recht des Pati­en­ten. Die­ser wil­ligt nach Bera­tung und Auf­klä­rung durch den behan­deln­den Arzt in eine medi­zi­ni­sche Behand­lung ein, kann also für sich ent­schei­den, ob er das mög­li­che oder zu erwar­ten­de Risi­ko ein­geht. Grund­sätz­lich gibt es auch das soge­nann­te Recht auf Krank­heit. Es steht einem Men­schen also auch frei, eine Behand­lung abzu­leh­nen und krank zu blei­ben. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat sogar zuletzt 2020 das nahe­zu bedin­gungs­lo­se Recht auf ein selbst­be­stimm­tes Ster­ben betont.

Bei psy­chi­schen Erkran­kun­gen ist das schwie­ri­ger. Was ist, wenn ein Mensch krank­heits­be­dingt nicht in der Lage ist, sei­nen Wil­len frei zu bil­den? Geschlos­se­ne Behand­lungs­set­tings oder gar ärzt­li­che Zwangs­be­hand­lun­gen wer­den als schwe­re Grund­rechts­ein­grif­fe seit jeher hei­kel dis­ku­tiert. Im Betreu­ungs­recht und in den Psy­chisch-Kran­ken-Geset­zen der Län­der ist das Ver­fah­ren zumin­dest klar und rechts­staat­lich gere­gelt. Es bedarf in der Regel – ins­be­son­de­re bei län­ge­ren Maß­nah­men – einem ärzt­li­chen Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten. Über die Maß­nah­men, die zeit­lich begrenzt sind, ent­schei­det am Ende ein Rich­ter oder eine Rich­te­rin. Bedingt durch die Schwe­re sol­cher Grund­rechts­ein­grif­fe kom­men sol­che Maß­nah­men fer­ner­hin nur zur Abwen­dung erheb­li­cher Gefah­ren in Betracht, im Betreu­ungs­recht etwa bei der Gefahr, dass sich ein Mensch erheb­li­chen gesund­heit­li­chen Scha­den zufü­gen oder selbst töten könn­te.

Dann gibt es jedoch noch Men­schen, die in Fol­ge ihrer schwe­ren psy­chi­schen Erkran­kung straf­recht­lich im Zustand der Schuld­un­fä­hig­keit in Erschei­nung getre­ten sind und nach gericht­li­cher Fest­stel­lung eine Gefahr für die All­ge­mein­heit dar­stel­len. Anlass für eine in der Regel unbe­fris­te­te Unter­brin­gung im Maß­re­gel­voll­zug kön­nen schwer­wie­gen­de Straf­ta­ten sein. Gera­de in den letz­ten Jah­ren und Jahr­zehn­ten führt aber auch ein flä­chen­de­cken­des Feh­len geeig­ne­ter psych­ia­tri­scher Ver­sor­gungs­struk­tu­ren immer häu­fi­ger dazu, dass auch Straf­ta­ten, für die Men­schen, die schuld­fä­hig sind, nicht ein­mal eine Frei­heits­stra­fe zu erwar­ten gehabt hät­ten, zur Unter­brin­gung im Maß­re­gel­voll­zug füh­ren. Das wie­der­um nennt man Foren­si­fi­zie­rung.

Kei­ne Fra­ge, die foren­si­sche Psych­ia­trie steht hier vor viel­fäl­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen. Sie muss Men­schen behan­deln, die nicht nur beson­ders schwer erkrankt sind, son­dern sich meis­tens auch zuvor im Bereich der Akut­psych­ia­trie nicht aus­rei­chend sta­bi­li­sie­ren konn­ten. So wie Chris­toph, über den das NDR im Novem­ber 2024 berich­te­te (https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/meldungen/Menschenunwuerdig-Forensische-Psychiatrie-Ochsenzoll-in-der-Kritik,ochsenzoll132.html) und der seit sei­nem 17. Lebens­jahr bzw. seit nun­mehr vie­len Jah­ren unter Bedin­gun­gen, die mit einer dau­er­haf­ten Iso­la­ti­ons­haft ver­gleich­bar sind, im Maß­re­gel­voll­zug unter­ge­bracht ist. Ruhig gestellt mit Medi­ka­men­ten. Medi­ka­men­te, die all­mäh­lich sein Gehirn zer­stö­ren. Ein Cock­tail aus ver­schie­de­nen Neu­ro­lep­ti­ka, von denen nie­mand weiß, zu wel­chen Neben- und Wech­sel­wir­kun­gen es kommt. Ein Cock­tail, der so in kei­ner medi­zi­ni­schen Behand­lungs­leit­li­nie emp­foh­len wird. Seit Jah­ren wei­sen die Eltern von Chris­toph auf die­sen Umstand hin und seit eini­ger Zeit kämp­fe auch ich als Berufs­be­treu­er um die Rech­te und für die Inter­es­sen von Chris­toph, der inzwi­schen das Voll­bild eines schwer intel­li­genz­ge­min­der­ten Men­schen prä­sen­tiert.

Nun folg­te am 16. Mai 2025 eine MRT-Unter­su­chung des Kop­fes, die trau­ri­ge Gewiss­heit bringt: “Alters­un­phy­sio­lo­gisch aus­ge­präg­te, gene­ra­li­sier­te Hirn­vo­lu­men­min­de­rung”. Die behan­deln­den Ärz­te wer­den nun behaup­ten, dass dies nicht Fol­ge der Medi­ka­men­te sei, son­dern der schwe­ren psy­chi­schen Erkran­kung. Sie wer­den sich auf § 10 des Ham­bur­gi­schen Maß­re­gel­voll­zugs­ge­set­zes beru­fen, das unter bestimm­ten recht­li­chen Vor­aus­set­zun­gen eine ärzt­li­che Zwangs­be­hand­lung gestat­tet. Dabei haben sie aber aus den Augen ver­lo­ren, dass gera­de die­se Rechts­grund­la­ge eine ärzt­li­che Zwangs­be­hand­lung nur dann vor­sieht, wenn sie Erfolg ver­spricht. Einen Erfolg, den es seit Jah­ren nicht gibt und für den man mas­si­ve hirn­or­ga­ni­sche Lang­zeit­schä­den zumin­dest bil­li­gend in Kauf genom­men hat, den Hirn­tod auf Raten. Eine Art Todes­stra­fe, leg­timiert durch medi­zi­ni­sche Behand­lung – obwohl von Schuld­un­fä­hig­keit aus­ge­gan­gen wor­den war.

Unse­re Gesell­schaft muss sich fra­gen, wie jetzt und in Zukunft mit schwer psy­chisch kran­ken Men­schen umge­gan­gen wer­den soll. Ein Schick­sal, das jeden tref­fen kann. Die psy­cho­phar­ma­ko­lo­gi­sche Behand­lung mit einem Neu­ro­lep­ti­kum ist wich­tig und in vie­len Fäl­len auch unver­zicht­bar, eben­so wie der Schutz der All­ge­mein­heit. Aber eine sol­che Behand­lung hat auch ihre Schat­ten­sei­ten, die in jedem Ein­zel­fall eine emp­find­li­che Nut­zen-Risi­ko-Abwä­gung erfor­der­lich machen. Die Medi­zin soll­te hier aus der Ver­gan­gen­heit ler­nen und sich trau­en, Hilf­lo­sig­keit zu benen­nen. Hilf­lo­sig­keit, die nicht jede irgend­wie zur Ver­fü­gung ste­hen­de medi­zi­ni­sche Behand­lung recht­fer­ti­gen kann. Gera­de dann, wenn sie irrever­si­ble Lang­zeit­schä­den zur Fol­ge hat. Auch im Bereich der foren­si­schen Psych­ia­trie.     fs

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Patient 6412807* hat jetzt keinen Betreuer mehr

Und das war pas­siert:

Ich wer­de im Novem­ber 2024 durch einst­wei­li­ge Anord­nung bestellt. Die Bestel­lung ist befris­tet bis zum 18.05.2025. Der Betreu­te ist unbe­kannt. Zumin­dest nament­lich. Die Bestel­lung erfolgt daher für Pati­ent Nr. 6412807 einer Ham­bur­ger Kli­nik. Dort liegt Pati­ent Nr. 6412807 auf der Inten­siv­sta­ti­on. Künst­lich beatmet und dia­ly­se­pflich­tig, kurz vor einem Mul­ti­or­gan­ver­sa­gen. Der Betreu­te ist Ende 30 und brach auf einer Park­bank zusam­men. Die Dia­gno­se: Ent­gleis­ter Dia­be­tes mel­li­tus Typ I mit Keto­azi­do­se und Enze­pha­lo­pa­thie auf dem Boden einer Poly­to­xi­ko­ma­nie. Die Enze­pha­lo­pa­thie beschreibt eine Schä­di­gung von Hirn­funk­tio­nen. Das Über­le­ben ist unge­wiss.

Der Betreu­te wird in den fol­gen­den Mona­ten in ver­schie­de­nen Ham­bur­ger Kli­ni­ken behan­delt und ist nach eini­ger Zeit wie­der ansprech­bar, auch wenn gewis­se hirn­or­ga­ni­sche Ein­schrän­kun­gen deut­lich sicht­bar blei­ben. Pati­ent Nr. 6412807 kann mir sei­nen Namen ver­ra­ten, so dass ich end­lich einen Betreu­er­aus­weis mit der rich­ti­gen Iden­ti­tät des Betreu­ten in den Hän­den hal­te. Die Betreu­ung mit den Auf­ga­ben­be­rei­chen der Gesund­heits­sor­ge und der Behör­den- bzw. Sozi­al­ver­si­che­rungs­an­ge­le­gen­hei­ten macht durch­aus Sinn. Ich kann vor­läu­fig Leis­tun­gen nach dem SGB II sicher­stel­len, für einen Kran­ken­ver­si­che­rungs­schutz sor­gen und auch die Wei­ter­be­hand­lung im Rah­men einer Früh­re­ha­bi­li­ta­ti­on sicher­stel­len. Der Betreu­te nimmt die Hil­fe dan­kend an.

Im Mai 2025 lebt der Betreu­te in einer von mir orga­ni­sier­ten Not­un­ter­kunft und ist ambu­lant an eine umfas­sen­de ärzt­li­che und the­ra­peu­ti­sche Wei­ter­be­hand­lung ange­bun­den. Er war­tet dar­auf, dass er mit der geplan­ten sta­tio­nä­ren Sucht­the­ra­pie begin­nen kann. Dass er mit Ende 30 fast gestor­ben wäre, hat ihn inner­lich auf­ge­rüt­telt. Lang­zeit­schä­den sind wahr­schein­lich. Noch immer fällt ihm das Spre­chen und Schlu­cken schwer.

Das Betreu­ungs­ge­richt fragt mich, ob eine Betreu­ung auch in der Haupt­sa­che not­wen­dig und sinn­voll erschei­ne. Ich beja­he und berich­te über den bis­he­ri­gen Ver­lauf. Außer­dem erklä­re ich, dass der Betreu­te mit einer Betreu­ung ein­ver­stan­den sei und mei­ne Hil­fe wei­ter­hin in Anspruch neh­men wol­le. Ich füge auch die lan­gen Ent­las­sungs­be­rich­te aus den behan­deln­den Ham­bur­ger Kli­ni­ken bei.

Dann pas­siert über Wochen gar nichts. Es gibt weder wei­te­re Rück­fra­gen noch einen Beschluss für die Ein­ho­lung eines Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten, um den Sach­ver­halt wei­ter auf­zu­klä­ren. Am 18.05.2025 errei­chen wir den Tag, bis zu dem mei­ne Bestel­lung mit einst­wei­li­ger Anord­nung aus dem Novem­ber 2024 befris­tet war. Ich wei­se das Gericht noch am sel­ben Tag auf die­sen Umstand hin.

Bereits am 19.05.2025 erreicht mich die Ant­wort des Gerichts: Sucht­er­kran­kun­gen recht­fer­tig­ten kei­ne Betreu­er­be­stel­lung. Es sei daher die form­lo­se Ein­stel­lung beab­sich­tigt. Die vor­läu­fi­ge Bestel­lung sei außer Kraft.

Das Gericht ver­weist in sei­nem Schrei­ben vom 19.05.2025 nicht nur auf eine Ent­schei­dung des BGH vom 25.03.2015 (XII ZA 12/15), die inhalt­lich nicht wirk­lich etwas mit der Fra­ge zu tun hat, ob eine Sucht­er­kran­kung eine Betreu­er­be­stel­lung recht­fer­ti­gen kann, da sie sich in ers­ter Linie mit den Vor­aus­set­zun­gen der zivil­recht­li­chen Unter­brin­gung zum Schutz vor Selbst­ge­fähr­dung bei einem alko­hol­kran­ken Betrof­fe­nen befasst, son­dern es zeigt auch deut­lich, was man in letz­ter Zeit auf­grund der Über­las­tung des gesam­ten Sys­tems Betreu­ung immer häu­fi­ger beob­ach­ten muss: Dass auch Gerich­te häu­fig kei­ne Lust mehr haben, ihre Arbeit zu erle­di­gen.

Eine Sucht­er­kran­kung allein kann kei­ne Bestel­lung eines Betreu­ers i.S.d. § 1814 Abs. 1 BGB begrün­den. Das war auch schon vor der Ein­füh­rung des § 1814 BGB mit Blick auf den § 1896 BGB a.F. so. Hier hat sich also durch die Reform des Vor­mund­schafts- und Betreu­ungs­rechts nicht wirk­lich etwas geän­dert. Das Gericht hat sodann im Rah­men des Amts­er­mitt­lungs­grund­sat­zes – nöti­gen­falls unter Ein­ho­lung eines Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­tens – auf­zu­klä­ren, ob die Sucht­er­kran­kung – etwa durch ihren jewei­li­gen Schwe­re­grad und/oder aus ihr resul­tie­ren­der phy­si­scher bzw. psy­chi­scher Beein­träch­ti­gun­gen einen Zustand zur Fol­ge hat, der es einem Voll­jäh­ri­gen nicht mehr erlaubt, sei­ne Ange­le­gen­hei­ten ganz oder teil­wei­se selbst zu besor­gen. Das wie­der­um ist auch bei jeder ande­ren Erkran­kung oder Behin­de­rung i.S.d. § 1814 Abs. 1 BGB der Fall. Hier hät­te eine sol­che Auf­klä­rung des Sach­ver­hal­tes ohne jeden Zwei­fel erge­ben, dass die Vor­aus­set­zun­gen für eine Betreu­er­be­stel­lung auch in der Haupt­sa­che vor­lie­gen. Dazu hät­te nur das Gericht tätig wer­den müs­sen, dem auch im Bereich des Betreu­ungs­rechts die Sicher­stel­lung eines rechts­staat­li­chen Ver­fah­rens obliegt.     fs

*Pati­en­ten­num­mer aus Daten­schutz­grün­den geän­dert.

Todkrank. Sterbewillig. Kein Zugang zu einem tödlichen Medikament.

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat bereits mit Urteil vom 26. Febru­ar 2020 (2 BvR 2347/15 u.a.) das Ver­bot der geschäfts­mä­ßi­gen För­de­rung der Selbst­tö­tung für ver­fas­sungs­wid­rig erklärt. Das all­ge­mei­ne Per­sön­lich­keits­recht umfas­se als Aus­druck per­sön­li­cher Auto­no­mie ein Recht auf ein selbst­be­stimm­tes Ster­ben. Die Frei­heit, sich das Leben zu neh­men, umfas­se wei­ter­hin auch die Frei­heit, hier­für bei Drit­ten Hil­fe zu suchen und Hil­fe, soweit sie ange­bo­ten wer­de, in Anspruch zu neh­men. Die Ent­schei­dung stärk­te damit ins­be­son­de­re die Rech­te von schwer erkrank­ten Men­schen, die selbst­be­stimmt über das Ende ihres Lebens ent­schei­den wol­len.

In der Fol­ge­zeit stell­te sich indes her­aus, dass schlicht­weg ein Zugang zu Medi­ka­men­ten fehlt, die geeig­net sind, das Leben auf huma­ne Wei­se zu been­den. Ein sol­ches Medi­ka­ment ist bei­spiels­wei­se das Bar­bi­tu­rat Natri­um-Pent­o­bar­bi­tal, das schon lan­ge in der Tier­me­di­zin ein­ge­setzt wird. Anträ­ge auf Ertei­lung einer Erlaub­nis zum Erwerb von Natri­um-Pent­o­bar­bi­tal zum Zwe­cke der Selbst­tö­tung lehn­te das Bun­des­in­sti­tut für Arz­nei­mit­tel und Medi­zin­pro­duk­te ab. Das Bun­des­ve­wal­tungs­ge­richt ent­schied sodann am 7. Novem­ber 2023 (3 C 8.22 u.a.), dass die­se Ent­schei­dung recht­mä­ßig sei. Das Gericht argu­men­tier­te, dass seit der Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts aus dem Jahr 2020 ver­schie­de­ne Orga­ni­sa­tio­nen die Ver­mitt­lung von Ärz­ten auf­ge­nom­men hät­ten, die bereit sei­en, Sui­zid­hil­fe zu leis­ten. Die aus einem Fehl­ge­brauch resul­tie­ren­den Gefah­ren für Leben und Gesund­heit der Bevöl­ke­rung sei­en ange­sichts der ein­fa­chen Anwend­bar­keit des Prä­pa­ra­tes Natri­um-Pent­o­bar­bi­tal dem­ge­gen­über zu hoch.

Es stellt sich in die­sem Zusam­men­hang die Fra­ge, ob von einer ech­ten Frei­heit, sich das Leben zu neh­men, gespro­chen wer­den kann, wenn Ster­be­wil­li­ge zunächst einen Arzt fin­den müs­sen, der bereit ist, ihnen beim Sui­zid zu hel­fen. Auch im Betreu­ungs­recht kommt es immer wie­der zu Fäl­len, die Ent­schei­dun­gen an der Gren­ze zwi­schen Leben und Tod betref­fen.     fs

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